Die Erkenntnis, dass Adipositas eine schwerwiegende systemische Erkrankung ist, hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt. Was weniger präsent ist: Adipositas ist nicht nur für die betroffene Patientin ein Problem, sondern oft auch für ihre Kinder. Ein Gespräch über die biologischen und sozialen Aspekte dieser Herausforderung.
INTERVIEW:
Dr. med. Katrin Schaudig
Präsidentin der Deutschen Menopause Gesellschaft e. V.
Frau Dr. Schaudig, stimmt es, dass adipöse Mütter die Krankheit an ihre Kinder weitergeben?
Ja, das scheint so zu sein, zumindest in vielen Fällen. Das Problem beginnt möglicherweise schon präkonzeptionell. Eine Gewichtsabnahme vor Eintritt der Schwangerschaft wirkt sich vermutlich bereits günstig aus. In der Schwangerschaft selbst haben Frauen oft das Gefühl „ich muss jetzt für zwei essen“. Die Ernährung während der Schwangerschaft spielt für die Entwicklung des Fetus eine große Rolle und wenn es uns gelänge, Übergewichtige hier gut zu beraten, wäre dem Kind vermutlich sehr geholfen.
Aber es spielen noch sehr viel mehr Dinge eine Rolle – viel Genetik und ganz viel Epigenetik. Nehmen wir das PCOS. Dafür gibt es eine genetische Veranlagung und an der damit verbundenen Insulinresistenz kommen wir nicht vorbei. Das hat auch nur wenig mit der Ernährung der Mutter zu tun. Umwelteinflüsse bzw. die soziale Umgebung spielen beim Heranwachsen des Kindes sicher ebenfalls eine wichtige Rolle: Wenn ich als Kind in eine Familie geboren werde, wo Vater und Mutter schon jenseits eines BMI von 35 liegen, gibt es in dieser Familie sicher auch entsprechende Ernährungsgewohnheiten. Bei diesen Kindern kommt dann noch ein Umfeld hinzu, das die Gewichtsentwicklung ungünstig beeinflusst. Sie sehen: Auf jeden Fall ist es so, dass sich die Adipositas der Mutter häufig in die nächste – ja sogar übernächste – Generation fortsetzt.
Haben adipöse Frauen auch übergewichtige Kinder?
Ja, häufig ist das so! Aber häufig haben adipöse Mütter auch Kinder mit einer intrauterinen Wachstumsretardierung, die als dystrophe Kinder zur Welt kommen. Was aber total spannend ist: Man hat solche Kinder nach der Geburt über einen Zeitraum von sechs Jahren nachbeobachtet und herausgefunden: Die meisten Kinder haben das niedrige Geburtsgewicht bis zum sechsten Lebensjahr aufgeholt – aber in Form einer zentralen Fettvermehrung, die mit einer Insulinresistenz einhergeht. Und Kinder, die mit sechs Jahren schon ein metabolisches Problem haben, sind mit 20 Jahren oft so übergewichtig wie ihre Mütter.
Die Auswirkungen der Adipositas auf Schwangerschaft und Entbindung können also gewaltig sein – wie wir gerade gehört haben. Aber wie sieht es bei Kindern adipöser Mütter aus, die gesund zur Welt kommen? Gibt es langfristige Auswirkungen?
Das kommt auf die individuelle Situation an. Hatte die Mutter PCOS und eine Insulinresistenz? Oder gehört sie zu den „gesunden Dicken“? Wir können die Frauen ja in der Schwangerschaft nicht überwachen und wissen nicht, ob sie jeden Tag zwei Tafeln Schokolade essen oder fünf Wienerle. Eine Lifestyle- und Ernährungsberatung während der Schwangerschaft hat sicher einen präventiven Effekt.
Wir müssen uns einfach die gesellschaftliche Situation anschauen. Auch früher gab es sicher einen deutlichen Anteil an Frauen mit einer genetischen Prädisposition für Adipositas. Aufgrund der Lebensumstände – erheblich mehr Bewegung, angefangen mit sehr viel zu Fuß bewältigten Wegen, z. B. einem langen Schulweg, und weniger verfügbare Nahrung – hat man das Problem aber quasi „im Keim erstickt“. Heute läuft ein Erwachsener, der in der Stadt lebt, im Schnitt nur noch 700 Meter am Tag, die zunehmende Nutzung digitaler Medien ist da sicher kontraproduktiv. Natürlich kann auch eine adipöse Mutter darauf achten, was gut für ihr Kind ist. Wenn sie das Problem aber für sich selbst nicht lösen kann, habe ich da so meine Zweifel.
Was können wir denn tun, um diesen Familien zu helfen?
Spannende Frage. Zunächst denke ich, dass in der klassischen Ernährungsberatung noch viel Luft nach oben ist. Hier werden oft noch sehr alte Modelle des Lebensstils und der Ernährung vermittelt. Ich habe Patientinnen, die sagen: „Meine Ernährungsberaterin hat gesagt, morgens kann ich essen so viel ich will.“ Die machen sich dann ein Frühstück aus Ananas, Bananen und anderen Obstsorten, die extrem Fructose-haltig sind und wundern sich, dass sie kein Gramm abnehmen. Bei der Beratung adipöser Menschen wird meines Erachtens der psychotherapeutische Ansatz vernachlässigt – hier müssten mehr Optionen angeboten werden.
Wir können das Problem nur mit ganz viel Aufklärungs- und Erziehungsarbeit verbessern und aktuell gibt es einfach zu wenige Angebote. Hier müssen auch die Krankenkassen viel stärker ins Boot geholt werden. Natürlich kostet das Geld. Aber das lässt sich bei der Behandlung der Folgeerkrankungen wieder einsparen. Immerhin hat der Bundestag 2020 Adipositas als chronische Krankheit anerkannt. Ein Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen das Problem gesundheitspolitisch angehen: Es muss Beratungsangebote geben und neue Versorgungsstrukturen – und dieses Angebot muss schon in der Schule anfangen. Die Lehrpläne haben so viele Inhalte, die heute völlig irrelevant sind. Ein Schulfach „Lebensstil und gesunde Ernährung“ wäre da viel wichtiger, denn steter Tropfen höhlt den Stein. Von der frauenärztlichen Seite können wir dazu nur einen kleinen Beitrag liefern. Andererseits sind wir als Frauenärztinnen und -ärzte über viele Jahre oft die einzigen kontinuierlichen Ansprechpartner der Frauen.
Ich würde sagen: Was wir brauchen, ist ein globales und nationales edukatives Projekt, bei dem viele Gruppierungen an einem Strick ziehen. Gutes Beispiel hierfür ist die von Michelle Obama vor Jahren in den USA gestartete Initiative „ Let’s move“ zur Bekämpfung der Adipositas bei Kindern. Bis heute findet das alles in Deutschland aber zu „kleinkariert“ und ohne Breitenwirkung statt. Ein ganz großer und breiter Ansatz tut Not, mit dem die gesamte Bevölkerung erreicht und begeistert wird.
Das ausführliche Interview mit Dr. Schaudig gibt es als Podcast auf www.der-privatarzt.de/podcast
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