Lange Zeit agierte die Medizin geschlechtsneutral. Heute weiß man, dass biologische sowie soziale und kulturelle Unterschiede bei Frauen und Männern unter anderem zu einer unterschiedlichen Erkrankungshäufigkeit und Wirksamkeit von Medikamenten führen. Doch welche Bedeutung kommt der Gendermedizin im Praxisalltag zu?
Im westeuropäischen Vergleich mit 16 Ländern belegen Männer mit 78,7 Jahren Lebenserwartung Rang 15 und Frauen mit 83,5 Jahren Rang 14 laut Statistik des BiB, dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Dieses Ergebnis steht im Kontrast zu einem kostenintensiven Gesundheitswesen in Deutschland.
Das Ziel, eine effektivere, die Letalität senkende und nicht diskriminierende Versorgung in Deutschland zu gewährleisten, ist möglich, wenn alle Geschlechter adäquat berücksichtigt und intersektional verschränkte Diskriminierungsformen als Problem erkannt werden.
Um eine derart optimierte Behandlung zu gewährleisten und damit das Vertrauen der Bevölkerung in die medizinische Versorgung wieder herzustellen, werden allerdings in der Versorgung sowie in der biomedizinischen Forschung neue Standards benötigt. Die geschlechtersensible Medizin unter Berücksichtigung weiterer Diversitätsfaktoren – GSM+ und auch Gendermedizin genannt – beruht auf medizinischer Evidenz zu biologischen Geschlechterunterschieden und dem Einfluss soziokultureller Determinanten bei der Erhaltung von Gesundheit und der Entstehung von Krankheit.
Differenzierung nach Geschlecht lange vernachlässigt
Der weibliche Körper gilt als gut geschützt durch den höheren Estrogenspiegel bis zur Menopause. Auch ist die Lebenserwartung von Frauen in Deutschland höher als die der Männer. Ein differenzierterer Blick zeigt aber, dass z. B. der kardiovaskuläre Schutz bei Frauen überschätzt wird und die Letalität in der Postmenopause bei Frauen mit ischämischen Herzerkrankungen und Herzklappenerkrankungen höher ist als die bei Männern. Darüber hinaus ist die 30-Tage-Krankenhausletalität bei jüngeren Frauen mit akutem Herzinfarkt höher als die der gleichaltrigen Männer. Diese epidemiologischen Kennzahlen sind nicht neu und in anderen europäischen Ländern, den USA und Kanada ebenfalls zu beobachten.
In den 1980er-Jahren hatte die US-amerikanische Ärztin Marianne Legato zum ersten Mal den Blick auf bis dahin unbekannte oder nicht ernst genommene Symptome bei einem Herzinfarkt bei Frauen gerichtet. Heute ist bekannt, dass es sich bei diesem Beispiel nicht um einen Einzelfall handelt, sondern um eine systematische Vernachlässigung einer wesentlichen Unterscheidung, die für differenzierte Merkmalsausprägungen in biologischen Systemen verantwortlich ist.
Bei der statistischen Auswertung wurde lange Zeit keine Differenzierung nach dem biologischen Geschlecht vorgenommen und auch heute werden überwiegend die Daten zur Morbidität und Mortalität als Absolutzahlen bezogen auf 100 000 Einwohner dargestellt.
Da der Erkrankungsbeginn, insbesondere bei den kardiovaskulären Erkrankungen, bei Frauen häufig 10 Jahre später liegt als bei Männern, ist hier eine Vergleichbarkeit, ohne das Alter als zweite wichtige Determinante bei der Ergebnisdarstellung zu berücksichtigen, schwierig.
Frauen werden bei kardiovaskulären Erkrankungen häufiger unterdiagnostiziert
In der täglichen Praxis werden mehr Männer als Frauen mit kardiovaskulären Erkrankungen diagnostiziert und behandelt, das gilt im Durchschnitt bis zum 85. Lebensjahr. Aber, die Wahrscheinlichkeit an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, unter der Bedingung, erkrankt zu sein, also die Letalität, ist bei Frauen beispielsweise höher bei chronisch-ischämischen Herzerkrankungen, Herzklappenerkrankungen und der Herzinsuffizienz im Vergleich zu Männern. Diese Daten werden oft nicht in den Publikationen dargestellt, sind aber wichtig, um die Frage nach den Einflussfaktoren zu beantworten, die möglicherweise etwa zu der erhöhten Krankenhaussterblichkeit bei Frauen < 60 Jahren mit akutem Myokardinfarkt führen.
Entscheidend sind nicht nur die biologischen Unterschiede
Höchste Zeit, unter anderem die Ergebnisse der bayrischen Klosterstudien ernst zu nehmen. Die Metaanalysen wurden anhand von weiblichen und männlichen Mitgliedern monastischer Ordensgemeinschaften erstellt und wiesen schon frühzeitig darauf hin, dass Männer aufgrund der biologischen Gegebenheiten, also dem Y-Chromosom anstelle des zweiten X-Chromosoms, einen Unterschied in der Lebenserwartung von einem bis höchstens eineinhalb Jahren weniger im Vergleich zu Frauen haben. Den größten Unterschied bedingen die sozialen und kulturellen Unterschiede.
Diese soziokulturellen Faktoren, die auf eine weibliche und/oder männliche Genetik treffen, sind entscheidend für die vielfältigen Phänotypen und Charaktere, die jeden einzelnen Menschen prägen. Daher beschäftigt sich die geschlechtersensible, personalisierte Medizin unter Berücksichtigung weiterer Diversitätsfaktoren mit der Interaktion von soziokulturellen Determinanten (Gender) und dem biologischen Geschlecht (Sex). Das biologische Geschlecht wird dabei durch das X-Chromosom und das Y-Chromosom bestimmt. Autosomale Gene, epigenetische Modifikationen und die Sexualhormone tragen zur Ausprägung der Geschlechtsorgane bei und zum Geschlechtsdimorphismus. Der Begriff Gender hingegen ist ein Konstrukt, um das individuelle, nicht binäre, soziokulturelle Geschlecht zu beschreiben. Gender bezieht sich auf die sozial konstruierten Rollen, Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und sexuellen Identitäten. Um die Geschlechterunterschiede bei der Prävention von Erkrankungen bzw. bei deren zielgerichteter Behandlung im Praxisalltag nutzen zu können, sollten die wesentlichen Einflussfaktoren, die zur Erhaltung der Gesundheit und zur Entstehung von Krankheiten beitragen, systematisch erfasst werden (Tab.). Die Anamnese zum soziokulturellen Hintergrund beinhaltet vor allem Fragen zu: Bildung, Mehrfachbelastungen (ungenügende soziale Alltagsunterstützung), psychischem und physischem Stress, körperlichen Einschränkungen, Gesundheitskompetenz, sozialer und ökonomischer Deprivation, Misshandlung sowie Gewalterfahrung – und das nicht nur bei Frauen.
Gender und Sex am Beispiel von COVID-19
Im Verlauf der Corona-Pandemie ließen sich bereits früh deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern feststellen: Inzwischen ist es Konsens, dass eine Erkrankung in ihrer Ausprägung und ihrem Verlauf bei Frauen und Männern sehr unterschiedlich sein können.
So zeigen Versorgungsdaten zur Hospitalisierung bzw. Aufnahme auf eine Intensivstation, dass die Wahrscheinlichkeit, während einer COVID-19-Erkrankung intensivmedizinisch behandelt werden zu müssen, bei Männern höher ist als bei Frauen. Letztere sind dagegen häufiger von Langzeitsymptomen wie dem Long-COVID-Syndrom betroffen.
Weltweit erhobene Versorgungsdaten belegen zudem das zu Anfang der Pandemie auch in Deutschland beobachtete 1,7- bis 2,0-fach höhere Sterblichkeitsrisiko von Männern – abhängig von Alter und Vorerkrankungen wie insbesondere des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge.
Klinische Studien haben gezeigt, dass ein wesentlicher Pathomechanismus, der zur Schädigung der Lunge führt, auf einer starken Abwehrreaktion des Immunsystems beruht. Der Zytokinsturm, also die potenziell lebensgefährliche Entgleisung des Immunsystems, scheint bei Männern unkontrollierter abzulaufen als bei Frauen, weil diese vermutlich von einer estrogenbedingten Hemmung profitieren.
Allerdings belegt die geschlechtersensible Betrachtung der epidemiologischen Daten bei Frauen zwischen 15 und ca. 60 Jahren eine um 15 % höhere Infektionsrate im Vergleich zu Männern. Das lässt vermuten, dass sich mehr Frauen im prämenopausalen Alter, also mit hohen Estrogenspiegeln, infizieren als gleichaltrige Männer. Der Hintergrund: Bei Frauen und Männern ist das Angiotensin-Converting-Enzym 2 (ACE2) für das Eindringen des Virus in die Zelle verantwortlich. Das Gen für das Ausbilden dieses Enzyms befindet sich auf dem X-Chromosom; somit liegt nahe, dass ein Unterschied zwischen einer weiblichen Zelle besteht, die zwei X-Chromosomen besitzt, und einer männlichen Zelle mit nur einem X-Chromosom. Zwar wird in der Regel das zweite X-Chromosom biologisch inaktiviert, um das Ungleichgewicht zwischen männlicher und weiblicher Zelle auszugleichen – allerdings gelingt das nicht vollständig. Die verbleibenden aktiven Gene auf dem zweiten X-Chromosom (ca. 15–20 %) lassen vermuten, dass es bei Frauen im Gegensatz zu Männern zu einer vermehrten Produktion von ACE2 und damit zu einer erhöhten Einschleusung des Virus in die Zelle kommt. Da sich dieser Effekt nach der Menopause abschwächt, liegt hier vermutlich einer der Gründe für die mit dem Alter abnehmende Infektionsrate bei Frauen (Abb.). Neben den geschilderten Unterschieden, die durch das biologische Geschlecht gegeben sind, müssen außerdem die geschlechterbedingten soziokulturellen Unterschiede beim Ansteckungs- und Infektionsgeschehen einbezogen werden, um die Dynamik der Infektion zu verstehen. Nach wie vor ist es die Lebenswirklichkeit vieler Frauen in Deutschland, den Großteil der Kinderbetreuung, während der Corona-Pandemie einschließlich Homeschooling, zu übernehmen. Ein weiterer Faktor ist die Erwerbsarbeit, die zum Teil nur außer Haus, beispielsweise in Gesundheits- und Pflegeberufen, geleistet werden kann: In Summe sind das Bedingungen, die eine erhöhte Infektionsgefahr für diese Frauen darstellen, und auch für eine Dynamik der Infektionsausbreitung – bei glücklicherweise oft mildem Krankheitsverlauf – verantwortlich sind.
Gender-Data-Gap betrifft beide Geschlechter
Aufgrund des aktuellen Gender-Data-Gap bezogen auf fehlende Daten zum weiblichen Körper, werden zurzeit verstärkte Anstrengungen von allen Seiten unternommen, diese Daten zu erheben, und es entsteht der Eindruck einer „Frauenmedizin“. Diese Datenlücke kann sich aber genauso auf den männlichen Körper beziehen, etwa bei der Therapie der Osteoporose, der Depression oder von Brustkrebs. Von geschlechterspezifischer Forschung und geschlechtersensibler Medizin profitieren alle Geschlechter.
Die einzelnen Beiträge in diesem Heft zu Atemwegserkrankungen, Hypertonie, Adipositas, Schlafstörungen und Darmerkrankungen gehen vertiefend auf das vorhandene Wissen (meist) zu den biologischen Geschlechterunterschieden ein.
Weitere Diversitätsdomänen
Variablen aus den weiteren Diversitätsdomänen werden noch nicht systematisch in den Studien erfasst, sodass erst in den nächsten Jahren eine deutliche Erweiterung des Wissens zu Themen wie sozioökonomischer Status, Umwelt, Religion und Weltanschauung, Pflegearbeit, soziale Unterstützung, psychische Gesundheit und körperliche Leistungsfähigkeit zu erwarten ist. Voraussetzung ist eine Akzeptanz zur Nutzung dieser soziokulturellen Variablen. Dazu bedarf es eines Perspektivwechsels in der biomedizinischen Forschung und medizinischen Gesellschaft: Von einem biologisch einheitlichen Körperbild ohne Zyklus und Schwangerschaft zu einer geschlechterspezifischen, personalisierten Medizin unter Berücksichtigung weiterer Diversitätsdomänen.
Transidente Menschen
Zu den weiteren Diversitätsfaktoren gehört beispielsweise auch die Einordnung der sexuellen Identität, sodass in diesem Zusammenhang zusätzlich von einem Geschlechterkontinuum gesprochen wird. Für die medizinische Versorgung sind hier insbesondere Kenntnisse zu transidenten Personen wichtig, also Know-how zu einer sehr differenzierten Abwägung bei der Behandlung bezogen auf das biologische Geschlecht und die Wirkungen der Sexualhormone während und nach einer hormonalen Transition.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig
Die systematische Erforschung der soziokulturellen Einflussfaktoren und das Erfassen dieser Variablen in prospektiven klinischen Studien wird eine längerfristige Aufgabe der geschlechtersensiblen Medizin sein und bedarf der Fähigkeit der Interprofessionalität. Hierzu gehören insbesondere Fachbereiche aus der Sozialmedizin, der Psychologie und den pflegenden und rehabilitativen Berufen. Das könnte für die Zukunft bedeuten, dass die Sektoren zwischen den einzelnen versorgenden Bereichen im Gesundheitswesen Grenzen überschreiten und eine effizientere Kommunikation zwischen präventiver, ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung zu einer verbesserten Therapieeffizienz führt.
Big Data und Künstliche Intelligenz
Nicht zuletzt durch den Bedarf, größere Datenmengen zu erheben, sowie die Kommunikation mit den Patienten zu verbessern, kommt der Anwendung von Apps und die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) eine große Bedeutung zu. Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf der Bereitstellung von Datensätzen, die beide Geschlechter gleichermaßen abbilden, zum Training der KI.
Würde diese Voraussetzung ignoriert werden, dann hätte das unmittelbar negative Auswirkungen auf die Qualität der medizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Umsetzung im Praxisalltag
Auf dem Weg zu einer individuellen Medizin bildet die geschlechtersensible Medizin einen entscheidenden Meilenstein und die Grundlage für eine zunehmende Berücksichtigung von Diversität in der medizinischen Versorgung.
Hilfreich für den klinischen Praxisalltag ist es, an die Stoffwechselwege der Medikamente zu denken, den möglichen Einfluss des Sexualhormonstatus der Patientin oder des Patienten zu berücksichtigen, Taillenumfang und Handkraft zu messen, um den Anteil von metabolisch aktivem Fett und die Muskelkraft einzuschätzen.
Wichtig ist auch, auf die Art der Kommunikation zu achten, um sicher zu stellen, dass die Informationen auch aufgenommen und in das eigene praktische Handeln umgesetzt werden können.
FAZIT:
Die geschlechtersensible Medizin beruht auf medizinischer Evidenz zu biologischen Geschlechterunterschieden und dem Einfluss soziokultureller Determinanten. Wie wichtig eine Differenzierung ist, zeigt sich z. B. bei kardiovaskulären Erkrankungen, aber auch bei der COVID-19-Pandemie. Inzwischen ist es Konsens, dass sich ein Virus bzw. eine Erkrankung in Ausprägung und Verlauf bei Männern und Frauen sehr unterscheiden können. Die Gendermedizin bildet auf dem Weg zu einer individuellen Medizin einen entscheidenden Meilenstein und die Basis für eine verstärkte Berücksichtigung von Diversität in der medizinischen Versorgung.
Die Autorin
PD Dr. med. Ute Seeland
Fachärztin für Innere Medizin, Gendermedizin DGesGM®
Geschlechtersensible Medizin in der Lehre und klinischen Forschung
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie
Charité – Universitätsmedizin Berlin
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