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Gynäkologie

Erfolge und Herausforderungen

Trends in der Geburtshilfe

Prof. Dr. med. Michael Abou-Dakn

Die Erfolge in der Geburtshilfe der vergangenen 50 Jahre sind enorm. Trotzdem gibt es noch Luft nach oben. Die ganzheitliche Betrachtung des „Event Entbindung“ und viele neue Herausforderungen machen weitere Anpassungen unerlässlich. Eine Bestandsaufnahme.

Neben der bis in die Antike reichenden langen ­Geschichte der Geburtshilfe ist die Historie der klinischen Geburtsmedizin eine relativ kurze. So entstanden erst im 18. Jahrhundert die ersten geburtshilf­lichen Abteilungen (Straßburg 1728, London 1739). In Dublin wurde 1745 die erste Geburts­klinik von dem Chirurgen Bartholomew Mosse gegründet. Die weltweit erste „Universitätsgeburtsklinik“ folgte in Göttingen 1751. In Deutschland entstand die erste Hebammenschule 1751 in der Berliner Charité.[1]

Noch Anfang des vergangenen Jahrhunderts war die Hausgeburt in Deutschland durchaus üblich, seitdem hat sich das Verhältnis der klinischen zur außerklinischen Geburtshilfe allerdings radikal verschoben. Aktuell finden nur noch ca. 1,5 % der Geburten in Deutschland außerhalb der Kliniken statt.

Die Versorgung der Schwangeren in unserem Land ist außergewöhnlich gut und sowohl die Ressourcen als auch die Zuständigkeiten und Maßnahmen für die Frauen sind gesetzlich geregelt. Durch diese engmaschige medizinische Versorgung, insbesondere durch die niedergelassenen Frauenärztinnen und -ärzte, kann eine sehr frühzeitige Intervention bei Risiken erfolgen. In kaum einem anderen Land sind solche Ressourcen für praktisch alle Betroffenen gegeben.

Erfolge vs. Interventionen

Die Erfolge hinsichtlich der mütterlichen und kind­lichen Morbidität und Mortalität sind bemerkenswert. Vor rund 100 Jahren (1916) musste man in Deutschland mit einer Müttersterblichkeit von 320 Fällen/100.000 Geburten rechnen und selbst 1980 lag diese Rate noch bei 20 verstorbenen Müttern/­100.000 Geburten. Im Jahr 2015 ist sie erfreu­licherweise auf knapp 3/100.000 Geburten reduziert worden.[2] Zu bedauern ist allerdings, dass die gesamte Müttersterblichkeit in Deutschland nicht nach der internationalen Definition erfasst wird. So finden sich lediglich Analysen der in der Perinatalzeit verstorbenen und durch die Kliniken erfassten Mütter. Eine Erfassung aller schwanger­schafts­bedingten Todesfälle bis zum 42. Tag postpartum erfolgt zurzeit nicht. Aktuell wird auf Bestrebung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe versucht, dies zu ändern und die Arbeits­gruppe „Müttersterblichkeit“ am Institut für Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) hierzu zu erweitern.

Auch hinsichtlich der perinatalen Säuglingssterblichkeit konnten große Erfolge erzielt werden. Starb um 1870 noch jedes vierte Kind innerhalb des ersten Lebensjahres, so halbierte sich dieser Anteil in den folgenden rund 50 Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ­ver­starb noch etwa jedes zehnte Kind in den ersten zwölf Monaten nach der Geburt, gegenwärtig ist mit einem Wert von rund 3,4 Sterbefällen je 1.000 Lebend­­geborenen ein Niveau ­erreicht, das auch im internationalen Vergleich sehr niedrig ist – wenn auch nicht in der Spitzengruppe (Abb. 1).[3]

Das deutlich verbesserte Ergebnis von Müttern und Kindern ist sicher durch die deutlich veränderten Lebensumstände und die soziale Absicherung der Schwangeren und Mütter zu erklären.[4] Aber auch die Fortschritte in der Medizin, die Betrachtung des ­Kindes als „Patient“ in der Geburtsmedizin und ­damit die Suche nach adäquaten Über­wachungs­möglichkeiten sowie präventiven Maßnahmen haben zu dieser deutlichen Verbesserung der Säug­lings­sterblichkeit geführt.[5]

Allerdings werden die Ergebnisse mittlerweile weltweit nicht mehr „nur“ an den harten gesundheitlichen Fakten gemessen, sondern seitens der Weltgesundheitsorganisation[6] und in Deutschland[7] wird eine ganzheitliche Betrachtung gefordert. Gleichzeitig werden wir Mediziner mit dem Vorwurf konfrontiert, dass die Interventionen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen haben.[8] Wir müssen uns also darauf einstellen, dass Geburts­zufriedenheit und die seelischen Aus­wirkungen der Geburt für Mutter und Kind zu­nehm­end eine wichtige Rolle spielen.

Dadurch werden die tradierten Prozesse in der ­Ge­burtsmedizin hinterfragt. Etwa: Können Interven­tionen in ihrem Nutzen einer möglichen Belastung überlegen sein und Schaden für Mutter und Kind ­ab­wenden? Interdisziplinäre Leitlinien helfen dabei, gemeinsam mit allen Beteiligten das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen. Diese Leitlinien auf hohem Niveau (S2–S3) haben daher auch ­zunehmend in ge­burtshilflichen Fragestellungen ihren Stellenwert und lösen die Expertenmeinungen und Stellung­nah­men ab. Unter Einbeziehung aller beteiligten Grup­pierun­gen werden nunmehr konzertierte Empfeh­l­ungen publiziert. In diesem Jahr folgen die S3-Leitlinie zur „Sectio caesarea“ und zur „Vaginalen Geburt am Termin“. Leitlinien zur Behandlung von Brust­drü­sen­erkrankungen in der Stillzeit, Vorgehen bei Früh­ge­burtlichkeit, zum ­Gestationsdiabetes und zur Adipositas in der Schwangerschaft sind bereits publiziert.

Gewalt im Kreißsaal

Auch im Laienbereich werden die medizinischen Interventionen zunehmend kritisch dargestellt. Es finden sich zunehmend Berichte von Frauen, die sich in ihren Bedürfnissen nicht ausreichend ­informiert und bei Interventionen einbezogen ­fühlen. Das wird auch seitens der Weltgesundheitsorganisation zunehmend als Gewalt gegen Frauen in der Geburtshilfe gewertet. In aktuellen Studien – die allerdings keine Daten aus Industrie­ländern einschließen – findet sich verbale, aber auch körperliche Gewalterfahrung von Frauen unter der Geburt in bis zu einem Drittel aller Fälle.[9]

Auch wir sollten uns diesen Themen stellen und genauer nachvollziehen, welche Vorwürfe bestehen und welche tatsächlich berechtigt sind. Ein wesentlicher Punkt scheint aber hier die Kommunikation mit den Patientinnen zu sein. Eine professionelle Kommunikationsschulung sollten daher alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchlaufen. Interventionen sollten gut begründet sein und das Einverständnis auf einer gemeinsamen Erörterung mit den Frauen beruhen (Prinzip der partizipativen Entscheidung).

Auch sollten wir wahrnehmen, dass die zunehmende Arbeitsbelastung in den Kreißsälen dazu beitragen kann, dass sich Frauen nicht ausreichend betreut fühlen. Auch dies wird als Gewalterfahrung unter der Geburt gewertet.10 Es bleibt also eine wesentliche Aufgabe der leitenden Ärztinnen und Ärzte, die Arbeitszufriedenheit auch in den Kreißsälen für alle Berufsgruppen zu berücksichtigen und für eine ausreichende Personalstärke Sorge zu tragen. Die positiven Effekte einer engen Begleitung unter der Geburt sind hinreichend bekannt.

Demografischer Wandel und besondere Betreuungssituationen

Eine weitere Herausforderung ist der demografische Wandel. Europaweit steigt das Durchschnittsalter der schwangeren Frauen11 und auch in der Reproduktionsmedizin werden deutlich ältere Frauen, bis hin zu postmenopausalen Frauen, schwanger – durch außerhalb Deutschlands durchgeführte Eizellspenden.

Hieraus ergeben sich neue Erkenntnisse hinsichtlich der Risiken von Schwangerschaft und Geburt. Das Wissen um allgemeinmedizinische und internistische Erkrankungen bis hin zu ungewöhnlichen Fragestellungen wie Herzinsuffizienzen oder komplexe Herz- und Nierenerkrankungen wird in der Geburtshilfe immer wichtiger, um die umfassende Betreuung der Schwangeren zu gewähren. Hinzukommen die Fortschritte in der Medizin, die früher bei einer Vielzahl von Erkrankungen eine Schwangerschaft unmöglich machten, die heute durchaus möglich ist. Das trifft insbesondere bei schweren Niereninsuffizienzen, kompliziertem Diabetes mellitus oder auch dem Z. n. Herzoperation oder Herzerkrankungen zu.

Auch die zunehmende Zahl adipöser Schwangeren stellt eine neue Herausforderung in der Betreuung dar. Die Beratung der Frauen und Mädchen schon weit vor einer möglichen Schwangerschaft scheint hier ein wesentlicher Faktor zu sein. Solide Kenntnisse in der Ernährungsberatung wie auch in der Frage nach Bewegung und Sport können dabei die Beratungskompetenz einer frauenärztlichen Praxis abrunden. Auch die Betreuung von Frauen mit Kinderwunsch und Schwangeren nach einer bariatrischen Operationen macht ein neues und spezielles Wissen notwendig.

Die zunehmende Nutzung der NIPT (nicht invasiver Pränataltest) wird uns und unsere Patientinnen in der Zukunft sicher vor weiteren ethischen Herausforderungen stellen. Zurzeit wird vor allem die Detektion der Trisomien diskutiert. Es ist jedoch anzunehmen, dass in Zukunft eine viel weiterreichende Analyse – bis hin zum gesamten Genom – möglich sein wird und uns vor eine neue (Beratungs)Herausforderung stellt. Letztlich müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie sehr wir den Wunsch nach dem perfekten Kind unterstützen wollen und können. Diese Beratung der Paare auch hinsichtlich der ethischen Konsequenzen bedarf nicht nur einer profunden Fachkenntnis, sie muss auch finanziell darstellbar sein. Denn diese Beratung ist sehr zeitaufwendig.

Wandel der Geburtskliniken in Deutschland

Bei zunehmenden Geburtenzahlen in Deutschland auf mittlerweile rund 750.0000 Geburten pro Jahr und der Reduzierung der Geburtskliniken auf 700 in 2018 (Abb. 2) muss der Aspekt der deutlichen zunehmenden Arbeitsbelastung aller an der Geburt beteiligten Berufsgruppen und der Übertragung der stressbedingten Arbeitsunzufriedenheit auf die Geburtssituation ebenfalls Betrachtung finden. So haben insbesondere die Hebammenverbände sehr deutlich auf die Belastungen hingewiesen und sind auch von der Gesellschaft gehört worden.

Aber auch das ärztliche Personal sowie die Pflegenden leiden unter der Situation und der Belastung. So fehlen in bestimmten Gegenden Deutschlands Fachpersonal, und Geburten müssen abgewiesen werden, weil entweder die räumlichen Ressourcen nicht mehr ausreichend vorhanden sind oder das Personal fehlt. Hierbei spielen auch die geringen finanziellen Ressourcen eine Rolle. Das Diagnosis Related Groups(DRG)-System sollte in diesem Zusammenhang dringend überdacht werden. Denn ein wesentlich auf die Sachkosten bezogenes Finanzierungssystem spiegelt letztlich nicht die wichtige Betreuungssituation in der Geburtshilfe wider.

Zurückhaltende, aber zugewandte Betreuung ist extrem personalintensiv. Diese Kosten sollten von der Gesellschaft getragen werden und nicht von den Paaren aufgebracht werden, wie es mittlerweile in Belegsystemen oder der außerklinischen Geburtshilfe üblich geworden ist. Zur zukünftigen Finanzierung unseres Sozialsystems ist Be­völkerungs­zuwachs dringend notwendig. Das kann aber nur gelingen, wenn Familien bereits in der Schwangerschaft und während der Geburt unterstützt werden. Wir sind sehr gerne bereit, unseren Beitrag zu leisten und uns den medizinischen Herausforderungen zu stellen. Gesellschaft und Politik müssen den Rahmen für eine humane Geburtshilfe möglich machen.

Der Autor

Prof. Dr. med. Michael Abou-Dakn
Ärztlicher Direktor
St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof
Wüsthofstr. 15
12101 Berlin

michael.abou-dakn@sjk.de

[1] Schlumbohn J et al., Die Entstehung der Geburtskliniken in Deutschland 1751–1850, Wallstein Verlag 2004
[2] Müttersterblichkeit 2017, http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/ Glossareintraege/DE/M/muettersterblichkeit.html?nn=3072818
[3] Säuglingssterblichkeit in Deutschland 1872–2015, 2017, http://www.bib-demografie.de/DE/ZahlenundFakten/08/Abbildungen/a_08_09_saeuglingssterblichkeit_d_ab1872.html
[4] Gertz N, Hebammenmangel in Deutschland, Evangelische Hochschule Berlin 2017
[5] Oladapo OT et al., Reprod Health 2015; 12: 48
[6] Shakibazadeh E et al., Brit J Obstet Gynecol 2018; 125: 932–942
[7] BMG, Nationales Gesundheitsziel: Gesundheit rund um die Geburt, Berlin 2017
[8] Taschner U et al., Hebamme 2014; 27: 158–162
[9] Bohren MA et al., Lancet 2019; 394: 1750–1763
[10] Bowser D et al., Exploring Evidence for Disrespect and Abuse in Facility-Based Childbirth Report of a Landscape Analysis: Harvard 2010
[11] European Perinatal Health Report 2018
[12] Abou-Dakn M, Anzahl der Geburtskliniken in Deutschland 2020

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