Im Juni 2021 erschien das Update der ersten deutschen S3-Leitlinie zum Reizdarmsyndrom [1]. Die Mitarbeit von 18 wissenschaftlichen Fachgesellschaften inklusive der Patientenvertretung ermöglichte eine breite interdisziplinäre Betrachtung und Ausrichtung.
Das Reizdarmsyndrom (RDS, Irritable Bowel Syndrom) definiert sich durch Erfüllung der folgenden drei Kriterien:
1. Es bestehen chronische (> 3 Monate) anhaltende oder rezidivierende Beschwerden (Diarrhoen, Obstipation, Schmerzen/Krämpfe, Meteorismus/Flatulenzen), die Arzt und Patient auf den Darm beziehen.
2. Die Beschwerden führen zu einer relevanten Beeinträchtigung der Lebensqualität des Patienten.
3. Es liegen keine für andere relevante Krankheitsbilder charakteristischen Symptome vor.
Die bisherigen Definitionen bis hin zu den Rom-IV-Kriterien weisen grundlegende Schwächen auf und bilden die klinische Realität nur unzureichend ab. So fußen sie teilweise auf einer rein symptombasierten Diagnosestellung, was im Hinblick auf die Variabilität der Symptome und Überlappung mit anderen, teils schwerwiegenden organischen Erkrankungen problematisch ist. Zudem wurde der oftmals im Vordergrund stehende Symptomkomplex „Blähungen/abdominelle Distension“ bisher nicht ausreichend abgebildet, wohingegen Stuhlgangsveränderungen als obligat angesehen wurden, obwohl sich diese nur bei Untergruppen der Reizdarmpatienten finden. Auch der Schweregrad der Symptome wurde bisher in keiner Definition berücksichtigt, sodass die Abgrenzung zu banalen Verdauungsproblemen unklar blieb. Außerdem ist zu bedenken, dass auffällige Untersuchungsergebnisse das Vorliegen eines RDS nicht mehr grundsätzlich ausschließen sollten, da mittlerweile verschiedene pathophysiologische Veränderungen beim Reizdarmsyndrom nachgewiesen wurden (z. B. eine gestörte intestinale Barriere „leaky gut“, Motilitätsstörungen, ein gestörter Gallesäuremetabolismus, viszerale Hypersensitivität u. v. m.).
Aktuelle Empfehlungen zur Diagnose
Die aktualisierte S3-Leitlinie empfiehlt hinsichtlich der Diagnosestellung, dass zum einen Anamnese, Muster und Ausmaß der Beschwerden mit einem Reizdarmsyndrom vereinbar sind (s. o.), zum anderen relevante Erkrankungen, die sich ebenfalls mit den Symptomen eines Reizdarms manifestieren können, symptomabhängig gezielt ausgeschlossen werden. Besonders wichtig ist der Ausschluss von schwerwiegenden Krankheiten mit ähnlicher Symptomatik: kolorektales Karzinom, Ovarialkarzinom, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, mikroskopische Kolitis und Zöliakie. Zusätzlich sollten weitere potenziell kausal therapierbare Krankheiten mit RDS-Symptomatik individuell in die differenzialdiagnostischen Überlegungen mit einbezogen werden (z. B. Fructoseunverträglichkeit, Lactoseunverträglichkeit, bakterielle Fehlbesiedelung des Dünndarms = SIBO). Eine frühe positive Diagnosestellung sollte angestrebt werden. Wenn nach der Diagnosestellung keine neuen Aspekte auftreten, soll jedoch eine Wiederholungsdiagnostik vermieden werden.
Therapiemanagement
Das Therapiekonzept beruht im Wesentlichen auf drei Säulen. Am Anfang steht eine einmalige überzeugende Diagnosestellung mit Ausschluss der o. g. Differenzialdiagnosen. Als Basismaßnahme steht die Patientenedukation an erster Stelle. Es ist wichtig, dem Patienten zu vermitteln, dass die Beschwerden „echt“ und organische Veränderungen zugrunde liegen, auch wenn diese mit den Methoden der klinischen Routinediagnostik nicht darstellbar sind. Dabei ist weder das Risiko für andere somatische Erkrankungen erhöht noch die Lebenserwartung eingeschränkt. Der Patient hat zudem selbst die Möglichkeit, die Beschwerden z. B. durch eine Ernährungsumstellung oder Stressreduktion zu lindern und seine Lebensqualität zu verbessern. Da weder eine gesicherte kausale Therapie noch eine grundsätzlich wirksame symptomatische Behandlung des Reizdarmsyndroms zur Verfügung steht, gilt es die vorhandenen multimodalen Therapieansätze individuell anzupassen und flexibel zu kombinieren. Dazu gehören neben allgemeinen (inklusive diätetischen) Maßnahmen und Probiotika vor allem symptomatisch wirksame Medikamente gegen die entsprechenden dominanten Einzelsymptome. Zusätzlich kommen individuelle psychotherapeutische und/oder komplementäre Ansätze infrage. Als Faustregel der Therapie gilt: Medikamente und Maßnahmen sind dem Einzelfall angepasst auszuprobieren und bei Behandlungserfolg weiterzuführen, bei Ineffektivität hingegen abzusetzen.
Die Autorin
Dr. med. Britta Bock
Ärztin Medizinische Klinik
Israelitisches Krankenhaus Hamburg
1 Layer P et al., Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms; Juni 2021 AWMF-Registriernummer: 021/016
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