An Krebs Erkrankte nutzen sehr häufig komplementäre Verfahren. Als Hilfestellung für eine kompetente und evidenzbasierte Beratung über die Vielzahl an begleitenden Verfahren dient die aktuelle S3-Leitlinie zur Komplementärmedizin. Diese wurde im Mai 2024 überarbeitet. Was ist neu?
In Deutschland nutzen 62 % der an Krebs Erkrankten komplementäre Verfahren [1]. Diese Maßnahmen sollen konventionelle Krebsbehandlungskonzepte nicht ersetzen, sondern ergänzen. Ziel ist es, Nebenwirkungen der konventionellen Behandlungen zu mildern und die Lebensqualität der Erkrankten zu erhöhen. In der integrativen Onkologie wird die konventionelle Therapie im Verbund mit komplementären Behandlungsmaßnahmen angewendet und dabei eine konzeptionelle Verbindung der beiden Heilansätze im Interesse der Patientinnen und Patienten angestrebt [2].
Aktualisierte S3-Leitlinie
Im September 2021 wurde die erste Version der S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ veröffentlicht. Da die Anwendung weiterhin häufig und der Bedarf an Aus- und Weiterbildungen zu diesen Themen hoch sind, wurde die Leitlinie im Mai 2024 unter Berücksichtigung der aktuell verfügbaren Evidenz überarbeitet. Die Leitlinie gibt somit onkologischen Behandelnden und an Krebs Erkrankten evidenzbasierte Empfehlungen für Therapieentscheidungen an die Hand:
Außerdem berücksichtigt sie aktuelle Daten zu den Themen Homöopathie, Carnitin, Selen, Vitamin D, Ingwer und Katzenkralle. Weiterhin gibt es neue Kapitel zu folgenden Therapieoptionen: Methadon, Zeolithe, Cannabinoide und Artemisia. Auch die Kapitel zu Akupunktur und Boswellia wurden überarbeitet [3].
Medizinische Systeme
Die S3-Leitlinie bewertet die Evidenz zu „whole medical systems“. Dazu zählen die klassischen Naturheilverfahren, Akupunktur und Akupressur, anthroposophische Medizin und Homöopathie.
Zur Akupunktur gibt es zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien (RCT), die positive Effekte zeigen. Daher sind in der S3-Leitlinie positive Empfehlungen zur Linderung vieler Beschwerden, die mit onkologischen Therapien einhergehen, zu finden. Laut S3-Leitlinie kann eine anthroposophische Komplexbehandlung, die eine Psycho- und Schlafedukation, Eurythmie- oder Maltherapie einschließt, zur Senkung von Fatigue sowie Ein- und Durchschlafstörungen bei Überlebenden nach Brustkrebs erwogen werden. Weiterhin hat die Erstanamnese in Kombination mit individueller Verschreibung klassischer Homöopathika zur Verbesserung der Lebensqualität zusätzlich zur Tumortherapie eine Positivempfehlung [3].
Sport- und Bewegungstherapie
Die Evidenzlage zur Sport- und Bewegungstherapie ist hochgradig positiv. Daher wurde die S3-Leitlinie „Bewegungstherapie bei onkologischen Erkrankungen“ 2021 angemeldet und die Veröffentlichung für den 31.12.2024 vorgesehen [4]. Da diese Leitlinie später als die S3-Leitlinie Komplementärmedizin datiert ist, wurden in diese ausgewählte Sport- und Bewegungstherapien eingeschlossen. Onkologischen Patientinnen und Patienten soll körperliche Aktivität unter und nach Abschluss der Krebstherapie empfohlen werden. Körperliche Inaktivität sollte vermieden werden. So früh wie möglich nach der Diagnose sollen mindestens 150 Minuten moderate oder 75 Minuten anstrengende körperliche Aktivität pro Woche wieder erreicht oder aufrechterhalten werden. Zum Erhalt der motorischen Hauptfähigkeiten dienen Ausdauer-, Kraft-, Koordinations- und Beweglichkeitstrainings. Auch zur Behandlung und Prävention von krebsspezifischer Fatigue sowie zum Erhalt der Lebensqualität sind Aktivität und Sport ratsam [3].
Biologische Therapien
Als biologische Therapien werden die begleitende Anwendung von Vitaminen und Mineralstoffen bezeichnet. Auch „Krebsdiäten“ (z. B. ketogene oder Low-carb-Ernährung), die Supplementierung von Carnitin oder Amygdalin zählen zum Komplex der biologischen Therapien. Sie werden in der S3-Leitlinie nicht empfohlen [3]. Aus wissenschaftlicher Sicht ist vor der Supplementierung von Mikronährstoffen eine Laborbestimmung empfehlenswert [5]. Die Gabe von Mikronährstoffen ist bei festgestellten Defiziten indiziert. Da es bei Krebspatientinnen und -patienten häufig an den Mikronährstoffen Vitamin B12, D und Selen mangelt, sollten diese Spiegel bestimmt werden. Bei Defiziten sollte adäquat unter Spiegelkontrolle supplementiert werden. Die fehlende Angabe der Ausgangsspiegel ist bei den meisten Studien zu Selen ein erheblicher Nachteil. Zudem mangelt es an Daten zur gezielten Substitution bei einem Defizit. Dies ist bedeutsam, da sowohl eine Unter- als auch eine Überversorgung mit Selen negative Folgen haben kann. Laut S3-Leitlinie kann Natriumselenit zum Schutz vor radiotherapieassoziierten Nebenwirkungen bei Kopf-Hals-Tumoren sowie Gebärmutterkrebs und gleichzeitigem Selendefizit erwogen werden.
Die Studienlage zu Vitamin D wurde ebenfalls erneut bewertet. Die Anzahl an Studien ist zwar zahlreich, doch haben sie methodisch Mängel. Daher liegen weiterhin keine ausreichenden Daten aus systematischen Reviews bzw. RCT zur Wirksamkeit von Vitamin D auf die Mortalität, Morbidität bzw. Toxizität und Lebensqualität vor. Folglich kann keine Empfehlung für oder gegen eine Vitamin-D-Gabe über die Kompensation eines Mangels hinaus gegeben werden. Die Vitamin-D-Spiegelkontrolle wurde in der S3-Leitlinie neu spezifiziert. Der 25-OH-Vitamin-D-Spiegel soll überwacht werden:
Der Nutzen von Carnitin in der Onkologie wird aktuell untersucht. Carnitin sollte nicht in Kombination mit einer taxanbasierten Therapie gegeben werden. Zur Verbesserung der peripheren taxaninduzierten Neuropathie empfiehlt sich Carnitin deshalb nicht. Die Datenlage zur Reduktion von Fatigue ist widersprüchlich. Auch zu Gewichtszunahme und Verbesserung der Lebensqualität bei Krebserkrankungen kann bisher keine Empfehlung gegeben werden [3].
Phytotherapie
Des Weiteren wurden in das Kapitel „Biologische Therapien“ pflanzliche und tierische Enzyme, Phytotherapeutika (z. B. Aloe Vera, Granatapfel oder Mistel) sowie extrahierte Pflanzenstoffe (z. B. Curcumin oder Lycopin) eingeschlossen. Die Bewertungen zu Artemisia annua und Katzenkralle sind neu. Da bisher keine Daten aus RCT zur Wirksamkeit auf die Mortalität, Morbidität und Lebensqualität bei Krebserkrankungen vorliegen, kann keine Empfehlung für oder gegen die Gabe gegeben werden.
In der aktualisierten S3-Leitlinie gibt es zudem neue Angaben zu 9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) (Abb.). Modifiziert wurden die Angaben zu Boswellia serrata. Eine RCT zeigte die Wirksamkeit auf zerebrale Hirnödeme bei Personen mit Hirntumoren unter Strahlentherapie. Daher kann Boswellia serrata ergänzend zur leitliniengerechten antiödematösen Therapie erwogen werden. Auch die Empfehlung zu Ingwer wurde aktualisiert. Aufgrund positiver Evidenz kann Ingwer zusätzlich zur leitliniengerechten Antiemese in der Therapie von zytostatikainduzierter Übelkeit/Erbrechen angewendet werden. Weiterhin kann keine Empfehlung für oder gegen Mistelgesamtextrakt mit dem Ziel der Verlängerung der Überlebenszeit gegeben werden. Aber die subkutane Gabe von Mistelgesamtextrakt kann zur Verbesserung der Lebensqualität bei soliden Tumoren erwogen werden [3].
Methadon und Zeolithe
Als neue Verfahren wurden Methadon und Zeolithe aufgenommen. Methadon kann für die Tumorschmerztherapie eingesetzt werden. Seit 2017 wird Methadon auch zur besseren Wirksamkeit der Tumortherapie öffentlich diskutiert, denn es gibt vielversprechende Hinweise aus experimentellen Studien. Bisher liegen jedoch keine Daten aus RCT zur Verbesserung der Wirksamkeit einer Tumortherapie vor. Demgegenüber besteht die Möglichkeit relevanter Neben- und Wechselwirkungen von Methadon (Obstipation, Ileus, Herzrhythmusstörungen, Atemdepression, Bewusstseinseinschränkungen). Daher soll Methadon gemäß S3-Leitlinie nicht mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Tumortherapie zu steigern, erwogen werden.
Das neu aufgenommene Zeolith soll das Krebswachstum verlangsamen und die Metastasenbildung hemmen können. Diese Effekte wurden bisher jedoch nur in präklinischen Studien untersucht. Es liegen keine ausreichenden Daten aus RCT zur Wirksamkeit von Zeolith zur Verbesserung der peripheren Neuropathie sowie hämatologischen Toxizität und Lebertoxizität unter einer Chemotherapie mit Oxaliplatin vor. Daher kann keine Empfehlung für oder gegen die Gabe gegeben werden. Zudem sollte unbedingt auf die mögliche absorbierende Wirkung von Zeolithen hingewiesen werden. Diese kann zu einem Wirkverlust von Medikamenten führen.
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, onkologische Therapien zu unterstützen. Häufig existieren zu diesen komplementären Verfahren gute Erfahrungswerte, doch mangelt es an qualitativ hochwertigen RCT, die eine positive Leitlinienempfehlung ermöglichen würden. Mit entsprechenden Forschungsfragen endet die S3-Leitlinie, die regelmäßig aktualisiert wird, um eine evidenzbasierte Beratung zu ermöglichen.
Prof. Dr. med. Jutta Hübner
Professur für Integrative Onkologie Universitätsklinikum Jena,
Klinik für Innere Medizin II
Über die Vielfalt an Möglichkeiten aufklären
Komplementäre Verfahren beschreiben alles, was Krebspatientinnen und -patienten begleitend nutzen. Ihre Anwendung ist eine Gratwanderung, denn sie können Wechselwirkungen verursachen oder selbst Nebenwirkungen aufweisen. Häufig gibt es keine Evidenz zur Wirksamkeit dieser Verfahren am Menschen. Der Wunsch nach begleitenden Behandlungsmaßnahmen ist bei Krebspatientinnen und -patienten sehr hoch, denn sie fühlen sich von der Erkrankung existenziell bedroht. Daher ist es wichtig, sie über die Vielfalt an Möglichkeiten aufzuklären. Mithilfe der S3-Leitlinie zur Komplementärmedizin kann evidenzbasiert und nach dem aktuellsten Wissensstand informiert werden. Ich habe kein festes Therapieschema, sondern gebe meinen Patienten individuelle Therapievorschläge, mit denen sie selbst aktiv werden können. So kann bei Fatigue ein starker Kaffee helfen. Eine Basis ist körperliches Training. Auch Kneipp-Güsse können Linderung verschaffen. Aus den vorgeschlagenen Bausteinen können Betroffene wählen und diese tagesformabhängig individuell anwenden.
Wichtig ist es, sich Zeit zu nehmen, um die Therapievorschläge zu erklären. Im Patientengespräch versuche ich herauszufinden, wie zuvor behandelt wurde und ob möglicherweise Nebenwirkungen aufgetreten sind. Das Hauptziel komplementärer Verfahren ist es, Nebenwirkungen zu lindern und dadurch die Lebensqualität zu steigern. Dabei sind körperliche Aktivität und eine ausgewogene Ernährung die Grundbasis der begleitenden Behandlung. Die mediterrane Ernährung ist empfehlenswert, sofern Pizzen und Nudelgerichte aus Vollkorn zubereitet werden. Wenn sich Patientinnen und Patienten an die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) halten und mindestens 5 Portionen Obst und Gemüse pro Tag essen, sind keine Vitaminpräparate notwendig. Dennoch führen wir Spiegelmessungen von den Mikronährstoffen durch, die bei Krebspatienten häufig defizitär sind: Vitamin D, B12 und Selen. Werden Mängel festgestellt, wird die Ernährung gezielt umgestellt und Supplemente werden unter Spiegelkontrolle gegeben.
Die Autorin
Dr. phil. nat. Miriam Neuenfeldt
Wissenschaftliche
Autorin & Referentin
18439 Stralsund
Bildnachweis: cienpies (gettyimages), privat