Die Bundesärztekammer (BÄK) ist unzufrieden mit dem Referentenentwurf, mit dem im Infektionsschutzgesetz die Vergabe von überlebenswichtigen, intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten geregelt werden soll. Es ging um die Versorgung von behinderten Patienten.
Die Formulierung des Entwurfes nimmt auf das BVerfG-Urteil Rücksicht: „Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung von pandemiebedingt nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten (Zuteilungsentscheidung) insbesondere wegen einer Behinderung, der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung benachteiligt werden“.
Unklar bleibt, wie dies bei begrenzten Ressourcen umgesetzt werden soll. Die BÄK kritisiert in ihrer Stellungnahme deshalb, dass die Vorrangigkeit der Schaffung ausreichender Behandlungskapazitäten lediglich im Begründungstext kurz aufgegriffen wird und offen bleibt, wem die Entscheidung obliegt, ob die gesetzlichen Verfahrensvorgaben Anwendung finden und wie die Information darüber zu den Krankenhäusern mit Intensivstation übermittelt wird. „Bereits im Normtext muss zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die Regelung ausschließlich auf die pandemiebedingte spezielle Ausnahmesituation beschränkt, die Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war“, unterstreicht Dr. Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der BÄK. Da Allokations- und Priorisierungsentscheidungen regelhaft Bestandteil ärztlicher Tätigkeit sind, sei die allein im Fokus des Referentenentwurfs stehende spezielle medizinische Behandlungssituation im Interesse der Rechtssicherheit aller Beteiligten klar zu umschreiben.
Moralisches Dilemma
Durch den expliziten Ausschluss der sogenannten „Ex-post-Triage“ käme das Gesetz nur zur Anwendung, wenn zwei Patienten zeitgleich eine intensivmedizinische Behandlung benötigen. Dabei wäre unerheblich, worin die Notwendigkeit der intensivmedizinischen Behandlung begründet ist, das heißt, ob sie ihre Ursache beispielsweise in einer Infektionsbehandlung, einer postoperativen Überwachung, einem Unfall, einem Herzinfarkt oder Schlaganfall hat. Aus ärztlicher Sicht zwingend ist aber, „dass insbesondere Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen bei der Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen - wie alle anderen Patientinnen und Patienten - weder benachteiligt noch bevorzugt werden“, betont Dr. Günther Matheis, Vizepräsident der BÄK, und verweist auf einen entsprechenden Beschluss des 126. Deutschen Ärztetages 2022.
Die BÄK betont schließlich, „dass sich Ärzte im Falle der Zuteilung knapper Ressourcen unabhängig von der jeweiligen Entscheidungssituation immer in einem moralischen Dilemma befinden“. Sei der Gesetzgeber von Verfassung wegen gehalten, wirksame Schutzmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen zu treffen, dürfe er die Entscheidung darüber, ob sich die an der Zuteilungsentscheidung beteiligten Ärzte bei Beachtung der Verfahrensanweisungen und materiellen Kriterien rechtmäßig verhalten oder sie nur kein individueller Schuldvorwurf trifft, nicht den Gerichten und der rechtswissenschaftlichen Diskussion überlassen. Vielmehr müsse er sich auch insofern eindeutig zugunsten der Ärzteschaft positionieren.
Pressemitteilung Bundesärztekammer, Juli 2022
Referentenentwurf Bundesministerium für Gesundheit, Juni 2022