Patienten sollten bei ihrer intensivmedizinischen Aufnahme systematisch auf Mangelernährung gescreent werden. Das empfiehlt die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) in einem Positionspapier.
Auch wenn der Blick in den klinischen Alltag oft anders suggeriert, es gibt ein unterschätztes Risiko für Mangelernährungen. In Studien zeigt sich deutlich, wie wichtig ein guter Ernährungszustand für die Genesung sein kann. So haben kritisch kranke Patienten ein rund doppelt so hohes Sterberisiko, wenn sie bei Aufnahme auf der Intensivstation mangelernährt sind. „Eine Mangelernährung kann sich dabei nicht nur als Untergewicht bemerkbar machen, sondern auch als ungewollte, krankheitsbedingte Gewichtsabnahme, als Verlust von Muskelmasse oder als verminderte Energie- oder Proteinaufnahme“, sagt Prof Dr. med. Arved Weimann (Leipzig), der das DIVI-Positionspapier federführend mitverfasst hat. Auch ein erhöhter Energie- und Proteinverbrauch sowie der Verbrauch von Vitaminen und Spurenelementen ‒ etwa bei akuten schweren Entzündungen, Verbrennungen oder Verletzungen ‒ kann zu einem Zustand der Mangelernährung führen.
Gerade bei Intensivpatienten ist der Ernährungsstatus jedoch oftmals nicht leicht zu erfassen. Nicht jeder Patient ist mobil genug, um ihn auf eine Waage zu stellen oder zu setzen, Bettwaagen stehen oft nicht zur Verfügung. Weil viele Betroffene zudem nicht ansprechbar sind, lassen sich auch die Ernährungsgewohnheiten oder die Gewichtsentwicklung der vergangenen Wochen nicht immer abfragen. „Oft stehen zunächst ‒ und zu Recht ‒ auch akut lebenserhaltende Maßnahmen im Vordergrund der Behandlung“, sagt Prof. Dr. med. Gunnar Elke (Kiel), ebenfalls ein Autor des Positionspapiers. Dennoch sollte ein erstes Ernährungs-Screening so bald wie möglich erfolgen, indem beispielsweise auch Begleitpersonen zur Ernährungs- und Gewichtsentwicklung der Erkrankten befragt werden. Die Verfügbarkeit einer Stuhl- oder Bettwaage bezeichnen die Autoren des Positionspapiers als obligat ‒ schließlich sei die Bestimmung des aktuellen Körpergewichts auch für andere therapeutische Maßnahmen, etwa die Medikamentendosierung, wichtig.
Versteckte Unterernährung
Allein der Body-Mass-Index (BMI) führe jedoch leicht zu Fehlschlüssen in Bezug auf den Ernährungsstatus, da Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe gerade bei Intensivpatienten häufig sind und einen Mangel maskieren können. Die Autoren empfehlen daher flankierende Untersuchungen, etwa die Messung von Unterhautfettgewebe, Ödemen, Muskelmasse und Muskelkraft. „Die Muskelmasse lässt sich auch an immobilen Patienten leicht und kostengünstig per Ultraschall am Oberschenkel messen“, betont Weimann. Für den Fall, dass ohnehin eine Computertomografie angefertigt werde, solle dabei auch die Muskulatur im Bauchbereich miterfasst und vermessen werden. Darüber hinaus werde auch eine Messung der Handkraft mithilfe eines Dynamometers empfohlen.
Zeichnet sich bei diesen Untersuchungen ein erhöhtes Ernährungsrisiko ab, sollten die Patienten gezielt ernährungsmedizinisch betreut werden. „Eine aggressive Kalorienzufuhr wird dabei nicht mehr empfohlen, vielmehr wird die Nährstoffzufuhr an die individuelle Toleranz von Verdauungsapparat und Stoffwechsel angepasst, genau überwacht und nur langsam gesteigert“, betont Prof. Dr. Dr. Anja Bosy-Westphal (Kiel), Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM). Um die weitere Entwicklung zu bewerten, solle mindestens zweimal pro Woche das Körpergewicht und mindestens einmal pro Woche die Körperzusammensetzung ‒ mithilfe von Ultraschall oder Bioimpedanzanalyse ‒ sowie die Handkraft gemessen werden.
Dieselben Maßnahmen sollten präventiv auch bei Patienten ohne auffälligen Ernährungsstatus ergriffen werden, falls zu erwarten ist, dass sie länger als sieben Tage auf der Intensivstation bleiben. „Denn allein dadurch ist das Ernährungsrisiko bereits deutlich erhöht“, so Bosy-Westphal. Viele Autoren des Positionspapiers sind auch Mitglieder der DGEM, die federführend für die aktuelle S2k-Leitlinie „Klinische Ernährung in der Intensivmedizin“ ist (AWMF Registernummer 073-004, DOI 10.1055/a-0713-8179).
Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), Juni 2022
Weimann A et al., Med Klin Intensivmed Notfmed 2022 Apr 28; 1‒14, DOI 10.1007/s00063-022-00918-4, PMID 35482063