Gesunde, ungeborene Kinder beherbergen im Mutterleib wohl doch keine lebenden Bakterien. Zu dem Schluss kommt eine internationale Gruppe Wissenschaftler in einer Studie, die sie im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht haben.
Die insgesamt 46 beteiligten Fachexperten widersprechen darin klar der Existenz eines „fetalen Mikrobioms“ bei gesunden Schwangerschaften. Und sie fordern, solche Fallstricke sequenzbasierter Mikrobiomstudien bei geringer Biomasse durch transdisziplinär angelegte wissenschaftliche Konzepte zu vermeiden.
Ursprünglich gehörte die Annahme, dass die Gebärmutter eine sterile Umgebung ist und ungeborene Kinder erst nach der Geburt ein Mikrobiom entwickeln zu den etablierten Grundsätzen der Immunologie und Reproduktionsbiologie. Mehrere nach 2010 veröffentlichte Studien stellten diesen Grundsatz jedoch in Frage: Die beteiligten Forscher konnten Bakterien in Proben von Plazenta und Fruchtwasser nachweisen. Selbst jüngste Publikationen sehen es als belegt an, dass z. B. ein Plazenta-Mikrobiom mit geringer Biomasse in gesunden Schwangerschaften existiert (Zakis DR et al., 2022, DOI 10.1016/j.jri.2021.103455).
Frühere Spuren wohl auf Kontaminationen zurückzuführen
Doch das interdisziplinäre Team von Fachleuten aus der Reproduktionsbiologie, der mikrobiellen Ökologie, der Bioinformatik, der Immunologie, der klinischen Mikrobiologie und der Gnotobiologie kam bei der Überprüfung dieser Studien einstimmig zu dem Schluss, dass die entdeckten mikrobiellen Signale wahrscheinlich das Ergebnis einer Kontamination während der klinischen Verfahren zur Gewinnung der fötalen Proben oder während der DNA-Extraktion und DNA-Sequenzierung sind. Darüber hinaus ist die Existenz lebender und sich replizierender mikrobieller Populationen in gesundem fötalem Gewebe nicht mit den grundlegenden Konzepten der Immunologie, der klinischen Mikrobiologie und der Herkunft keimfreier Säugetiere vereinbar. „Die spezielle Problematik bei diesen Mikrobiomen besteht in den sehr kleinen Konzentrationen der anwesenden Bakterien. Daher müssen auch in Spuren vorhandene Spezies sicher erkannt und von Kontaminationen unterschieden werden“, erklärt Prof. Mag. Dr. Thomas Rattei, Leiter der Forschungsabteilung für computergestützte Systembiologie am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien.
„Datenbanken und Methoden der Bioinformatik spielen in solchen Analysen eine besondere Rolle“, ergänzt er. Für die nun veröffentlichte Studie evaluierte er Aussagen zur Datenanalyse und Bioinformatik. In Übereinstimmung mit seinen internationalen Kollegen kommt auch er in der nun veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass es bei der vaginalen Entbindung, bei klinischen Verfahren oder bei der Laboranalyse zu einer Verunreinigung der Proben gekommen ist. Die Bakterien waren dementsprechend nicht bereits vor der Geburt im Fruchtwasser und der Plazenta vorhanden.
Aus Sicht der Forschergruppe sind die vorgelegten Schlussfolgerungen wichtig für das Verständnis der menschlichen Immunentwicklung und veranschaulichen häufige Fallstricke bei der mikrobiellen Analyse auch vieler anderer Umgebungen mit geringer Biomasse im Körper. Die Suche nach einem „fötalen Mikrobiom“ ist aus ihrer Sicht ein warnendes Beispiel für die Herausforderungen sequenzbasierter Mikrobiomstudien bei geringer oder fehlender Biomasse. Notwendig ist vielmehr ein transdisziplinärer Ansatz, der über simple Kontaminationskontrollen hinausgeht und auch biologische, ökologische und mechanistische Konzepte einbezieht.
Pressemitteilung Universität Wien, Januar 2023
Kennedy KM et al.: Nature. 613:639-649 (DOI 10.1038/s41586-022-05546-8).