Die Forschung zu Stammzellen hat in den vergangenen Jahren rasante Fortschritte gemacht. Wo stehen wir in diesem Bereich im Moment? Welche Trends sind erkennbar? Schlaglichtartig werden Indikation und praktische Anwendungen in verschiedenen Fachdisziplinen dargestellt.
Mesenchymale Stammzellen (MSC) haben sich in den vergangenen Jahren zu einem vielversprechenden Werkzeug in der regenerativen Medizin und Immuntherapie entwickelt. Ihre Fähigkeit zur Differenzierung in verschiedene Zelltypen, ihre immunmodulatorischen Eigenschaften und ihre relativ einfache Gewinnung machen sie zu einem attraktiven Kandidaten für eine Vielzahl von klinischen Anwendungen.
MSC sind multipotente Stammzellen, die aus verschiedenen Geweben gewonnen werden können, darunter Knochenmark, Fettgewebe, Nabelschnurblut und Plazenta. Sie zeichnen sich durch ihre Fähigkeit aus, sich in Zellen des mesodermalen Ursprungs zu differenzieren, z. B. Osteoblasten, Chondrozyten und Adipozyten. Darüber hinaus besitzen MSC immunmodulatorische Eigenschaften und können die Aktivität von Immunzellen wie T-Zellen, B-Zellen und Killerzellen beeinflussen.
Mesenchymale Stammzellen können u. a. aus der Whartonschen Sulze (WS) der Nabelschnur gewonnen werden. Whartonsche Sulze ist die Bezeichnung für die Interzellularsubstanz des gallertigen Bindegewebes der Nabelschnur, in das die Nabelarterien und die Nabelvene eingebettet sind. Die Benennung erinnert an den englischen Arzt Thomas Wharton, der diese gelartige Substanz 1656 erstmals beschrieb. Mesenchymale Stammzellen aus der Nabelschnur und aus der WS werden momentan intensiv in klinischen Studien untersucht.
Der Fokus liegt dabei auf der Therapie von Erkrankungen von Knochen, Knorpel, Haut, Leber, Niere, Nerven, Lunge, Herz, Gefäßen, Muskeln sowie Cornea- und Retinagewebe (Abb.). Zudem werden die Einsatzmöglichkeiten bei Krebs, Diabetes, Sepsis und anderen Erkrankungen momentan intensiv erforscht [1]. Auch zur Therapie unterschiedlicher Ursachen der Fertilität werden momentan neue Konzepte auf der Basis von Stammzellen entwickelt [2].
Infertilität und MSC als Therapiekonzept
Unerfüllter Kinderwunsch ist weltweit ein häufiges Problem. Bei der Entwicklung neuer Ansätze zur Therapie von bestimmten Ursachen der Sterilität und Infertilität haben mesenchymale Stammzellen eine zentrale Bedeutung. Verwendet werden dabei multipotente Stromazellen, die aus unterschiedlichen menschlichen Geweben und Organen gewonnen werden.
Extrazelluläre Vesikel (EV) sind parakrine Effektoren, die von mesenchymalen Stammzellen produziert werden. Ihr bioaktiver Inhalt hat eine zentrale Bedeutung für die Kommunikation zwischen Zellen und für die Steuerung der Proliferation umliegender Zellen. Extrazelluläre Vesikel, die sich aus mesenchymalen Stammzellen entwickelt haben oder aus diesen entwickelt wurden (MSC-EV), zeigten vielversprechende therapeutische Effekte: Reparatur von geschädigtem Endometrium, Wiederherstellung der Ovarialfunktion sowie Verbesserung der Quantität, Morphologie und Beweglichkeit von Spermien.
Dieses Behandlungskonzept ist durch hohe Proliferationsraten und geringe Immunogenität charakterisiert. Limitierende Faktoren für den Einsatz bei Infertilität der Frau sowie des Mannes sind momentan in erster Linie die hochgereinigte Herstellung und Extraktion von MSC-EV. Nach Überwindung dieser Limitationen ist der klinische Einsatz dieses Konzepts eine realistische Perspektive [2].
Mammakarzinom
Das Mammakarzinom gehört weltweit zu den häufigsten Krebserkrankungen. Die Behandlung der Sonderform des prognostisch ungünstigen triple-negativen Mammakarzinoms ist eine besondere Herausforderung. In diesem Bereich sind dringend innovative Ansätze erforderlich. In diese Richtung wird momentan intensiv geforscht. Dabei steht das den Tumor umgebende Gewebe (Microenvironment) im Fokus der Aktivitäten, da dies sowohl für das Tumorwachstum als auch für die Tumorausbreitung eine besondere Rolle spielt.
Extrazelluläre Vesikel sind dabei wichtige Mediatoren in der interzellulären Kommunikation, da sie am Austausch von biologischen Informationen zwischen gesunden Zellen und Krebszellen beteiligt sind. Stammzellen können aus unterschiedlichen Geweben gewonnen werden, u. a. aus Fettzellen. Unter den verschiedenen Subtypen der extrazellulären Vesikel haben Exosomen ein besonderes Potenzial für neue therapeutische Ansätze beim triple-negativen Mammakarzinom. Dabei haben die Stammzell-Exosomen, die aus Fettgewebe gewonnen werden, ein hohes therapeutisches Potenzial. Dieses potenzielle onkologische Therapiekonzept ist momentan auf dem Weg von der In-vitro-Ebene zur In-vivo-Anwendung [3].
Therapie der Sepsis
Die Sepsis induzierte Myopathie (SIM) erfasst in erster Linie die Muskulatur des Atemtrakts und des Skeletts. Hieraus resultiert ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Pneumonie, einer schweren Ateminsuffizienz, einer Langzeitbeatmung sowie eines längeren Klinikaufenthalts. Die SIM ist zudem ein unabhängiger Risikofaktor, der mit einer erhöhten Mortalität bei intensivmedizinisch behandelten Patientinnen und Patienten assoziiert ist. Bisher gibt es keine wirksame Behandlung zur Therapie der SIM. Allein die Behandlung mit mesenchymalen Stammzellen ist ein aufkommender und vielversprechender therapeutischer Ansatz. Dieses Therapiekonzept wurde bereits bei verschiedenen Erkrankungen klinisch eingesetzt. Umfangreiche Studien aus der Grundlagenforschung und aus klinischen Studien belegen die Wirksamkeit der Behandlung mit MSC bei Sepsis [4].
Therapie von Herzerkrankungen
Mesenchymale Stammzellen können mithilfe von parakrinen Faktoren zu Herzmuskelzellen differenziert werden. Dadurch lassen sich Fibrose, Apoptose und Autophagie im Zuge von Regenerationsprozessen nach Herzerkrankungen reduzieren.
Herzinfarkt: Nach Herzinfarkt können mesenchymale Stammzellen die Regeneration des Herzmuskelgewebes positiv beeinflussen. Zur Stimulation der Ausdifferenzierung werden u. a. Atorvastatin und Adiponektin eingesetzt,. Dadurch wird nach Herzinfarkt die Angiogenese und die Proliferation erhöht und daraus resultierend das Überleben.
Myokarditis: Die Myokarditis ist zumeist eine selbstlimitierende Erkrankung mit stufenweiser Verbesserung der Herzfunktion. Allerdings ist der Anteil an Myokarditis bei plötzlichem Herztod bei Kindern und Jugendlichen substanziell (3–17 % bzw. 8,6–12 %). Das Risiko einer chronischen dilatativen Kardiomyopathie beträgt 21–30 %. Die bisherigen Behandlungsoptionen haben nur eine limitierte Wirksamkeit [5].
Neue Behandlungskonzepte der Myokarditis basieren auf regenerativen Zelltherapien und Gentherapien. Zellbasierte Therapien sind momentan in fast allen Bereichen der Medizin auf dem Vormarsch. Stammzellen zur Behandlung der akuten Myokarditis und ihren chronischen Komplikationen ergaben – in Studien – eine Reduktion der Entzündung und der Fibrose des Myokards. Zudem konnte die Myokarditis-induzierte systolische Dysfunktion verhindert werden. Diese Resultate beziehen sich auf Studien in Tiermodellen [6].
Therapie der Sichelzellanämie
Die Sichelzellanämie basiert auf einer Punktmutation im β-Globin-Gen. Zur symptomatischen Behandlung gibt es zugelassene Medikamente. Fortschritte in der Genomchirurgie (gene editing) ergeben ein neues Potenzial zur Therapie der Sichelzellanämie: Die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation ist die einzige kurative Behandlung [7]. Mit LentiGlobin wurde hierzu ein Arzneimittel zugelassen. Das Präparat wurde in der Zwischenzeit aber wieder vom Markt genommen – angeblich aus wirtschaftlichen Gründen.
Das ist ein Beispiel dafür, dass es trotz der vielversprechenden Ergebnisse in präklinischen und klinischen Studien noch Herausforderungen bei der Anwendung von MSC gibt. Dazu gehören die Standardisierung von Gewinnungs- und Kultivierungsprotokollen, die Optimierung der Dosierung und Applikationswege sowie die Langzeitbeobachtung der Sicherheit und Wirksamkeit. Zukünftige Forschungsschwerpunkte liegen auf der Entwicklung von MSC-basierten Therapien mit verbesserter Wirksamkeit und Sicherheit, der Identifizierung von Biomarkern zur Vorhersage des Therapieerfolgs und der Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen.
Auch in der Gynäkologie finden MSC zunehmend Anwendung bei verschiedenen Indikationen. Beim Asherman-Syndrom können MSC zur Regeneration des Endometriums nach intrauterinen Adhäsionen beitragen [8]. Die immunmodulatorischen Eigenschaften von MSC könnten zur Behandlung von Endometriose eingesetzt werden [9]. MSC zeigen vielversprechende Ergebnisse auch bei der Behandlung von Präeklampsie, durch ihre Fähigkeit, die Plazentafunktion zu verbessern und Entzündungen zu reduzieren [10]. Bei ovarieller Insuffizienz könnten MSC zur Regeneration von Ovarialgewebe und zur Verbesserung der Fruchtbarkeit beitragen [11].
Die verbesserten Langzeit-Überlebensraten nach allogener hämatopoetischer Zelltransplantation (alloHCT) macht die Familienplanung für junge Erwachsene, die eine Krebserkrankung überlebt haben, zu einem wichtigen Thema. Allerdings ist das therapieassoziierte Risiko der Infertilität eine Herausforderung.
In einer deutschen Multicenterstudie wurden, basierend auf den Daten eines Transplantationsregisters, die Schwangerschafts- und Geburtsraten von Frauen ermittelt, die zwischen 2003 und 2018 eine alloHCT hatten. Ihr Alter lag zwischen 18 und 40 Jahren. Von 2 654 transplantierten Frauen hatten nachfolgend 50 Frauen insgesamt 74 Schwangerschaften. Diese waren im Median 4,7 Jahre nach der Transplantation aufgetreten. Eine Lebendgeburt hatten 57 Frauen (77 %). Die Wahrscheinlichkeit einer Lebendgeburt 10 Jahre nach einer HCT betrug 3,4 %.
Faktoren für eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft waren: jüngeres Alter bei alloHCT, nicht maligne Transplantationsindikationen, keine Ganzkörperbestrahlung. 72 % der Schwangerschaften entstanden spontan. Frühgeburten und geringe Geburtsgewichte waren häufiger als im Durchschnitt der Bevölkerung. Die Resultate dieser Studie belegen die Chance auf eine Schwangerschaft nach einer alloHCT [12].
Auf der Basis von mesenchymalen Stammzellen wurden und werden innovative Therapie-konzepte zur Behandlung verschiedener Erkrankungen und Funktionsstörungen entwickelt. Als Resultat entstehen zunehmend greifbare Ergebnisse für die klinische und praktische Anwendung. Eine der Quellen für mesenchymale Stammzellen ist Nabelschnurblut. Mit Blick auf die rasante Entwicklung neuer Therapiekonzepte auf dieser Basis erscheint Nabelschnurblut in einem neuen Licht: Es gewinnt eine zunehmende Relevanz für den künftigen praktischen Einsatz. Damit steigt bereits heute die Bedeutung der Entnahme von Nabelschnurblut im Zuge der Geburt mit nachfolgender Kryokonservierung und Einlagerung, jenseits von wissenschaftlichen Untersuchungen an Zellen aus Nabelschnurblut. So kann für das Neugeborene eine individuelle Behandlungsperspektive für bestimmte Erkrankungen, die sich im Verlauf des Lebens manifestieren können, sichergestellt werden. Das Spektrum der künftig behandelbaren Erkrankungen ist dabei nicht mehr auf nur wenige Diagnosen beschränkt.
Der Autor
Prof. Dr. med. Harald Meden
Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe
Swiss Institute for New Concepts and Treatments (SINCT)
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