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Allgemeinmedizin

Krebserkrankung

Medikamentöse Ansätze bei Tumorkachexie

Dr. med. Jann Arends

11.2.2025

Häufige Folge einer Krebserkrankung ist die Tumorkachexie, die in jedem Krebsstadium auftreten kann, manchmal sogar vor der Diagnosestellung. An medikamentösen Ansätzen mangelt es nicht. Doch was können diese tatsächlich bewirken?

Viele chronische Erkrankungen gehen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten systemischen Inflammationsreaktion einher. Dies ist v. a. bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen nahezu ausnahmslos der Fall. Ursachen sind insbesondere immunologische Abwehrreaktionen auf lokale Gewebsschäden, nicht tolerierte Oberflächenstrukturen und freigesetzte Produkte maligner Zellen sowie durch Immunschwäche verursachte rezidivierende Infektionen. Sekundär kommt es zu einer anhaltenden metabolischen Verschiebung hin zur Katabolie mit Zell- und Muskelverlust und zu zentral induzierter Anorexie und Fatigue. Diese Prozesse verstärken sich gegenseitig (Abb.) und führen zum Gewichtsverlust, bestehend aus dem Verlust von Fettreserven und dem Verlust von Zell- und insbesondere Muskelmasse.

In aktuellen internationalen Empfehlungen wird ein Gewichtsverlust von mehr als 5 % des Ausgangsgewichts (innerhalb von 6 Monaten) durch unzureichende Nahrungsaufnahme als Mangel­ernährung definiert, bei gleichzeitig aktivierter systemischer Entzündungsreaktion als Kachexie. Sowohl eine Mangelernährung, mehr jedoch noch eine Kachexie schränken die Lebensqualität und die Erkrankungsprognose erheblich ein. Trotz dieser immer klarer erkennbaren pathophysiologischen Zusammenhänge sind die therapeutischen Möglichkeiten bisher unzureichend.

Während eine effektive Tumortherapie eine Kachexie auflösen kann, ist seit Langem bekannt, dass es nicht möglich ist, mit alleiniger Ernährungstherapie den Verlauf einer bestehenden Tumorkachexie umzukehren. Die Suche nach wirksamen und verträglichen Modulatoren der Kachexiekaskade hat sich über die vergangenen Jahrzehnte auf eine Reihe unterschiedlicher Substanzen fokussiert und befördert aktuell mehrere interessante Hoffnungsträger.

Hypothalamus/Hirnstamm: Stimulation des Appetits und Verbesserung der Energiebilanz

Die zentrale Kontrolle des Appetits und der systemischen Energiebilanz sind komplex reguliert und involvieren Kerne im Hypothalamus (Nucleus paraventricularis/PVN und Nucleus arcuatus) sowie mehrere Regionen im Hirnstamm (u. a. Area postrema, Nucleus tractus solitarii, Chemorezeptor-Triggerzone, Brechzentrum).

Glukokortikoide und Progestine

Glukokortikoide und wahrscheinlich auch Progestine verschieben im Nucleus arcuatus die Aktivität von POMC(Pro-Opiomelanocortin)- zu AgRP / NPY(Agouti-related Peptide/Neuropeptid Y)-Neuronen und unterdrücken so die Freisetzung von α-MSH (α-Mela­nozyten-stimulierendes Hormon), welches über Bindung an den Melanocortin-Typ-4-Rezeptor (MC4-R) im PVN den Appetit drosselt.

Randomisierte Untersuchungen bei Personen mit fortgeschrittener Tumorerkrankung zeigten für Gluko­kortikoide schon in den 1970er- und 1980er-Jahren eine appetitsteigernde Wirkung, die allerdings kaum länger als 2–3 Wochen anhält, während ­unerwünschte Wirkungen (u. a. Thromboembolie, Immundepression, Myopathie) persistieren. Ein Einsatz kann für sehr kurze Zeit und als Begleitung zu aufklärender Kommunikation zur Problematik einer Tumorkachexie erwogen werden, wenn eine tumorassoziierte Appetitlosigkeit auf Unverständnis bei den betreuenden Personen trifft und zu Konflikten führt.

Der Einsatz von Progestinen bei Frauen mit Mammakarzinom führte in einem Teil der Fälle zum Anstieg des Körpergewichts, sodass der Einsatz bei Kachexie in multiplen Studien geprüft wurde. Inzwischen liegt eine größere Anzahl systematischer Reviews und Metaanalysen zum Thema vor, die im Wesentlichen eine Steigerung von Appetit und Körpergewicht bestätigen, jedoch keine Belege für eine Verbesserung der Muskelmasse finden und auf das Risiko u. a. von Thromboembolien, Ödemen und Hypertonie hin­weisen. Eine Zulassung zur Behandlung der Tumorkachexie liegt nicht vor.

Cannabinoide

Cannabinoide wirken über unterschiedliche Cannabinoidrezeptoren im ZNS und können über Cannabinoid-1-Rezeptoren den Appetit anregen. Die bisherigen randomisierten Untersuchungen bei ­Tumorerkrankten konnten jedoch keine zuverlässigen Belege für eine Appetit- und/oder Gewichtssteigerung erbringen. Da zumeist niedrige Cannabinoiddosierungen (bis 5 mg THC, Tetrahydrocannabinol oder Äquivalentmengen) geprüft wurden, bleibt offen, ob Studien mit eskalierenden Dosierungen zu einem anderen Ergebnis führen könnten.

Ghrelin

Das von enterochromaffinen Zellen der Magenschleimhaut in Hungerphasen freigesetzte Peptid Ghrelin (growth hormone release inducing) bindet im Hypothalamus an appetitinduzierenden AgRP/NPY-Neuronen. Das kleinmolekulare und nach oraler Gabe wirksame Anamorelin ist ein selektiver Ghrelinrezeptor-Agonist und konnte in 2 Phase-III-Studien im Vergleich zu Placebo bei Patienten und Patientinnen mit fortgeschrittenem Lungenkarzinom bei nur geringen Nebenwirkungen eine Verbesserung des Appetits, des Körpergewichts und der Körpermagermasse erreichen. Da sich jedoch keine signifikante Verbesserung im koprimären Endpunkt der Handkraft zeigen ließ, versagten FDA und EMA die Zulassung. In einem separaten Zulassungsverfahren erhielt Anamorelin 2020 die Zulassung zur Therapie der Tumorkachexie bei fortgeschrittenen soliden Tumoren von Lunge, Magen, Pankreas und Kolon in Japan.

MC4-R-Antagonisten

Die Blockade von MC4-Rezeptoren im Hypothalamus bewirkt im Kachexie-Tierversuch eine Steigerung von Nahrungsaufnahme und Körpergewicht. Mehrere MC4-R-Antagonisten befinden sich noch in frühen klinischen Untersuchungen.

Olanzapin

Olanzapin ist eine atypische antipsychotische Sub­stanz, die im ZNS eine Vielzahl von Neurotransmittern blockiert, darunter Dopamin, Serotonin, Katecholamine, Histamin und Acetylcholin. Olanzapin wirkt antiemetisch und ergänzt die Antiemese sowohl bei hoch als auch moderat emetogenen Chemothe­rapieregimen. In einer placebokontrollierten, randomisierten Studie erreichte niedrig dosiertes Olanzapin (2,5 mg/Tag) bei Erkrankten mit fortgeschrittenen soliden Tumoren während laufender Chemotherapie eine signifikante Verbesserung von Appetit, Körpergewicht und Lebensqualität bei gleichzeitig geringerer Chemotherapietoxizität. Es läuft inzwischen eine Phase-III-Studie für diese Indikation.

Mirtazapin

Das tetrazyklische Antidepressivum Mirtazapin blockiert zentralnervöse Adrenalin- und Serotonin­rezeptoren und wirkt sedierend und antiemetisch sowie möglicherweise appetitsteigernd. Der Einsatz in einer placebokontrollierten, randomisierten Studie bei Menschen mit fortgeschrittenem nicht klein­zelligem Lungenkarzinom ließ keine Änderung im Appetit erkennen, allerdings erschien die Energieaufnahme gesteigert. Weitere Untersuchungen zum Wirkmechanismus sind erforderlich.

GDF-15-Antikörper

Der Wachstums-Differenzierungsfaktor GDF-15 (growth differentiation factor 15) ist ein durch Stress induziertes Zytokin, das in peripheren Geweben freigesetzt wird und nach Passage der Blut-Hirn-Schranke im Hirnstamm an Rezeptoren bindet (GFRAL, glial cell-derived neurotrophic factor family receptor α-like protein), die Anorexie und Gewichtsverlust auslösen. Im Tierversuch löst GDF-15 ein Kachexiesyndrom aus und bei Tumorerkrankten sind erhöhte GDF-15-Spiegel mit einem Gewichtsverlust und reduzierter Prognose assoziiert. In einer placebokontrollierten randomisierten Studie bei 187 kachektischen Personen mit soliden Tumoren konnte der humanisierte monoklonale GDF-15-Antikörper Ponsegromab unter laufender Chemotherapie das Körpergewicht signifikant steigern und Kachexiesymptome sowie die Körperaktivität verbessern. Eine Phase-III-Studie mit Ponsegromab befindet sich in Planung und weitere GDF-15-Antagonisten werden in frühen klinischen Studien untersucht.

S-Pindolol

α- und β-adrenerge Rezeptoren sind in die Regulation des Energieumsatzes eingebunden.

S-Pindolol ist ein unselektiver β-Blocker und partieller β2-Agonist mit inhibitorischer Wirkung auf 5-HT1A-Rezeptoren im ZNS; dies resultiert in verminderter Katabolie, gesteigerter Anabolie und reduzierter Thermogenese. Im Kachexiemodell vermindert ­S-Pindolol bei Mäusen den Gewichtsverlust. In einer placebokontrollierten randomisierten Studie bei ­kachektischen Menschen mit Lungen- oder kolo­rektalen Karzinomen bewirkte S-Pindolol eine Steigerung des Körpergewichts, der Körpermagermasse und der Muskelkraft ohne Nachweis relevanter Nebenwirkungen. Eine Phase-III-Studie zur Sicherung der Wirkung befindet sich in Vorbereitung.

Antiinflammatorische Substanzen

Zur Dämpfung einer katabol wirksamen systemischen Inflammation wurden mehrere Substanzen geprüft. Hier lassen sich auch die weiter oben beschriebenen Glukokortikoide, Cannabinoide und GDF-15-Antagonisten aufführen, die auf unterschiedliche Weise in das Inflammationsgeschehen eingreifen. Mit dem Ziel, Inflammationsprozesse ganz allgemein zu reduzieren, wurden sowohl nicht steroidale Antirheumatika als auch langkettige Omega-3-Fettsäuren in onkologischen Settings untersucht, die Studienqualität war jedoch häufig gering und die Datenlage ist sehr heterogen, sodass für beide Prinzipien eine Wirkung bisher nicht zuverlässig nachgewiesen werden konnte. Parallel wurden spezifischere Ansätze untersucht.

TNF- und Interleukin-Antagonisten

Thalidomid hat komplexe immunmodulatorische und antiinflammatorische Wirkungen, einschl. einer Hemmung der Produktion von TNF-α und anderen proinflammatorischen Zytokinen. Die Ergebnisse kleiner klinischer Studien bei kachektischen Personen waren heterogen, größere Studien liegen auch wegen des ungünstigen Nebenwirkungsspektrums nicht vor. Untersuchungen mit anderen TNF-Antagonisten (z. B. Pentoxifyllin, Etanercept, Infliximab) blieben erfolglos. Im Tierversuch kann Interferon-gamma (IFN-γ) eine Kachexie auslösen und IFN-γ-Antikörper können eine experimentelle Kachexie ­abschwächen; entsprechende klinische Untersuchungen liegen allerdings nicht vor.

Die Interleukin-6(IL-6)-Zytokinfamilie spielt eine zentrale Rolle in der systemischen Inflammation und wirkt katabol auf unterschiedliche Organe, u. a. das Fettgewebe und die Skelettmuskulatur. IL-6-Aktivierung ist bei Patienten und Patientinnen mit Tumorerkrankung mit dem Auftreten einer Kachexie assoziiert. Aktuell konnten eine prospektiv kontrollierte sowie eine retrospektiv vergleichende Studie bei ­Personen mit Tumorkachexie zeigen, dass die intravenöse Applikation des Anti-IL-6-Antikörpers Tocilizumab nicht nur Inflammationsmarker, Kachexiesymptome, Körpergewicht und Handkraft, sondern auch das Überleben signifikant verbesserte.

Interleukin-1 (IL-1) ist ein Treiber der Inflammation und sowohl IL-1α als auch IL-1β sind mit der Entstehung einer Kachexie assoziiert. In einer placebokontrollierten randomisierten Phase-III-Studie bei Individuen mit fortgeschrittenen Kolorektalkarzinomen erreichte die intravenöse Infusion des IL-1α-Antikörpers MABp1 eine Verbesserung der Körpermagermasse sowie von Kachexiesymptomen.

Unterschiedliche Zytokine der IL-6-Familie vermitteln ihre intrazelluläre Wirkung über den JAK / STAT-Pfad (Janus kinase/signal transducer and activator of transcription). Eine Interaktion auf dieser Ebene könnte deshalb die Wirkung mehrerer Zytokine gleichzeitig beeinflussen. Der JAK-Hemmer Ruxolitinib konnte in einer Phase-II-Studie bei einer Subgruppe von Patientinnen und Patienten mit Pankreaskarzinom und aktivierter systemischer Inflammation das ­Gesamtüberleben signifikant verlängern. Weitere Studien zu diesem Ansatz laufen.

Modulation der Muskelproteinbilanz

Der Verlust von Muskelmasse ist eine prognostisch relevante Komponente einer Tumorkachexie. Die Muskelproteinsynthese unterliegt einer endogenen negativen Rückkoppelung durch das vom Muskel sezernierte Myostatin. Genetische Myostatindefekte führen zu exzessivem Muskelwachstum und eine Myostatinblockade kann im Tierexperiment den Kachexie-induzierten Muskelverlust aufheben. Die klinischen Prüfungen mehrerer Myostatin-Antagonisten bei Tumorkachexie zeigten jedoch keine positiven Effekte und führten wegen unvertretbarer Nebenwirkungen zum Abbruch dieser Versuche.

Anabole androgene Steroide können das Muskelwachstum anregen und die Testosteronspiegel ­liegen bei Tumorkachexie oft im subnormalen Bereich. Die Applikation von Testosteron und mehreren ­Analoga erbrachte grenzwertig signifikante Veränderungen der Körpermagermasse, führte in einigen Studien jedoch zu vermehrten Nebenwirkungen und Therapie­abbrüchen. Der selektiv muskelspezifische Androgenrezeptormodulator Enobosarm konnte in einer ­Phase-II-Studie bei Tumorerkrankten mit Gewichtsverlust die Körpermagermasse und die Muskelkraft signifikant verbessern; der Effekt konnte in 2 folgenden Phase-III-Studien jedoch nicht reproduziert werden. Diese Substanz wird aktuell geprüft zum Erhalt der Muskelmasse während der Einnahme von gewichtsreduzierenden Glukagon-like-Peptide-1-Rezeptorantagonisten (GLP-1-RA).

Nur Glukokortikoide (und Anamorelin in Japan) sind zugelassen zur palliativen pharmakologischen Therapie bei onkologisch Erkrankten mit Gewichtsverlust. Glukokortikoide zur Appetitsteigerung sind allerdings nur über kurze Zeit wirksam und mit relevanten Nebenwirkungen verbunden. Im Off-Label verfügbar und unterstützt durch vielversprechende Daten aus publizierten Studien zur Tumorkachexie sind Olanzapin, Tocilizumab und Ruxolitinib. Ebenfalls interessante Daten liegen vor für die bisher noch experimentellen Substanzen Anamorelin (Zulassung bereits in Japan), Ponsegromab, S-Pindolol und MABp1. Es ist zu hoffen, dass eine oder mehrere dieser Substanzen in den kommenden Jahren die zulässigen Optionen zur Behandlung der Tumorkachexie erweitern.

Der Autor

Dr. med. Jann Arends
Arzt für Gastroenterologie, Hämatologie und Internistische Onkologie
Klinik für Innere Medizin I
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

jann.arends@uniklinik-freiburg.de

Literatur beim Autor

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