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Gynäkologie

Lebensstil, bariatrische Chirurgie und medikamentöse Therapie

Langfristige Therapieoptionen bei Adipositas

22.1.2021

Adipositas ist ein Querschnittproblem – von der Orthopädie über die Innere Medizin und die Psychiatrie bis zur Frauenheilkunde hat jedes Fach seine eigene Adipositas-Thematik. Für Prof. Dr. Arya Sharma aus Edmonton (Kanada) ein triftiger Grund, Adipositas endlich als chronische Krankheit anzuerkennen.

Die Diskussion um Adipositas als chronische Krankheit ist noch immer schwierig. Schnell kommt die Frage auf: Wieso chronisch? Die Patien­ten müssten doch nur abnehmen. Aber so einfach ist es nicht: „Wer an Adipositas leidet, benötigt in der Regel eine lebenslange Behandlung. Aussicht auf vollständige Heilung besteht dabei fast nie.“ Prof. Sharma definierte Adipositas als chronisch fortschreitende Erkrankung, die ­unbehandelt zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands führe. Es gebe, so Sharma, allerdings auch stark Übergewichtige, die keinerlei Einschränkungen, Risikofaktoren oder Begleiterkrankungen haben und ­völlig gesund seien. Auf etwa 15 % schätzt er diese primär nicht behandlungsbedürftige Ausnahmegruppe.

Und natürlich gibt es auch Menschen, die es schaffen, erfolgreich und dauerhaft abzunehmen. Was machen die anders? Sie essen wenig (im Schnitt 1.400 kcal am Tag) und bewegen sich viel. Wenn man dafür noch 300–400 kcal abzieht, ­leben diese Leute von rund 1.000 kcal am Tag. Das schaffen die allerwenigsten auf Dauer. Deshalb scheitern 95 % der Bevölkerung bei diesem Unterfangen, obwohl sie es ernsthaft versuchen.

Mehr als ein Bilanzproblem

Adipositas ist aber mehr als ein Bilanzunterschied zwischen Aufnahme und Verbrauch. Denn physiologisch versucht der Körper, ein einmal erreichtes Gewicht zu verteidigen. Dazu reguliert das Gehirn unseren Stoffwechsel über ein fein abgestimmtes System aus Hormonen und Kontrollsignalen (Abb. 1). Insulin und komplexe Feedback-Mechanismen im Gehirn spielen dabei genauso eine zentrale Rolle wie die rund 3.000 AgRP-Zellen im Hypothalamus. Diese kleine Gruppe von Zellen bestimmt letztlich, wie viel wir essen und wie viel Glucose die Leber aus unseren Fettreserven freisetzt. Diese Zellen steuern auch, wie empfindlich unsere Körper­zellen auf Insulin reagieren.

Und der Hypothalamus lässt sich nicht willkürlich steuern. Genauso wenig, wie sich die Körpertemperatur willentlich steuern lässt, gilt das auch für das Gefühl von Hunger. „Und dem Hypothalamus ist es egal, ob Sie Typ-2-Diabetiker sind, Ihre ­Hüften durch hohes Gewicht ruinieren oder keinen regelmäßigen Zyklus mehr haben“, fasste er zusammen. Der komplette Regelkreis von Nahrungsaufnahme und Hunger ist darauf ausgerichtet, ein einmal ­erreichtes Körpergewicht zu halten. Das System ist hocheffizient, steuert präzise und ist auch noch redundant angelegt.

Ein effizienter Regelkreis

Schnell sorgen Leptine für Hunger und in der Folge sucht man nicht nur Nahrung, sondern auch solche, die viele Kalorien verspricht. „Wer den ganzen Tag nichts gegessen hat und dann zu Hause an den Kühlschrank geht, denkt nicht: Hoffentlich ist da noch Brokkoli von gestern. Sondern hoffentlich ist da noch ein Stück Pizza.“ Das nennt man Appetit. Und irgendwann fängt der an, bei jedem Patienten. Dummerweise fährt der Körper bei Gewichtsabnahme auch gleich mal den Grundumsatz runter und wird effizienter bei der Nahrungsverwertung.

Die Folge: Ich muss meine Anstrengungen nicht nur aufrechthalten, sondern sogar intensivieren. Wenn ich aufhöre, kommt das Gewicht wieder. „Und das ist die Definition einer chronischen Erkrankung“, sagte Prof. Sharma. „Sie ist nicht heilbar und wenn ich mit der Behandlung aufhöre oder reduziere, kommen die Symptome – hier das Gewicht – sofort wieder.“ Das gilt für jede chronische Erkrankung. Eine Behandlung muss also lebenslang durchführbar sein und damit scheiden alle Arten von Extremtherapien aus.

Wege zum Gewichtsverlust

Was kann man mit Lifestyle-Behandlung erreichen? Selbst bei motivierten Patienten, die an einem Programm teilnehmen, sind das im Schnitt nur 3–5 % (Abb. 2). Das ist besser als nichts, aber bei 100 kg Startgewicht auch nicht die Welt. Viel mehr ist durch bariatrische Chirurgie zu erreichen, auch langfristig. Etwa 20–30 % sind machbar. Aber nicht in der Masse umsetzbar, weil die Ressourcen schlicht und einfach fehlen. Es gibt kein allgemeingültiges für adipöse Menschen zu erreichendes Ideal- oder Normgewicht. Vielmehr geht es darum, mit jedem Betroffenen sein persönliches „Best Weight“ im Laufe einer langfristig und interdisziplinär angelegten Therapie herauszufinden. Das kann im Einzelfall auch ein sehr hohes Gewicht sein. Oberstes Ziel jeder Adipositas-Intervention ist für Sharma die Verbesserung der Lebensqualität und des Allgemeinzustands der Patienten. Er wertet einen Gewichtsstillstand und das Aufhalten der Progression als echten Behandlungserfolg.

Langfristige Interventionen

Um bei adipösen Patienten einen anhaltenden ­Therapieerfolg zu erreichen ist ein langfristiges, inter­disziplinäres Therapiemanagement erforderlich. ­Basis der Behandlung sind Ernährungsumstellung, Steigerung der Bewegung und Verhaltensänderungen, die durch medikamentöse Maßnahmen unterstützt werden können. Erste wirksame und sichere Therapeutika sind verfügbar und viele weitere in der Pipeline. Eine mögliche Option ist Liraglutid (Saxenda®): Das GLP-1-Analogon wirkt an spezifischen ­Rezeptoren in Gehirn, Pankreas und Gastrointestinaltrakt und reguliert den Appetit durch die Steigerung des Völle- und Sättigungsgefühls sowie eine Reduzierung des Hungergefühls und des Wunsches nach Nahrung. Prof. Sharma forderte deshalb vehement: ­„Adipositas muss als chronische Krankheit wie jede andere ­chronische Krankheit dauerhaft behandelt und ­multimodal betreut werden.“

Adipositas in der Frauenarztpraxis

Neben den allgemeinen Auswirkungen der Adipositas auf den Körper stehen aus gynäkologischer Sicht die Themen Fertilität und Schwangerschaft im ­Vordergrund. Adipositas ist einer der wesentlichen Risikofaktoren für die Entstehung des polyzystischen Ovarsyndroms (PCOS). Die daraus resultierende ­Hyperandrogenämie führt zu einer Störung der ­gonadalen Achse, dadurch wird die Follikelreifungsstörung verstärkt. Patientinnen mit einem PCOS ­haben daher häufig eine mindestens eingeschränkte Fertilität. Ist Frau dann doch schwanger geworden, lauern auch hier stark erhöhte Risiken. So ist das Abortrisiko von adipösen Schwangeren um bis zu 50 % gegenüber Normgewichtigen erhöht, nach ­reproduktionsmedizinischen Maßnahmen sogar um das 3- bis 4-Fache. Auch das Fehlbildungsrisiko ist bei adipösen Schwangeren höher.

In der Behandlung adipöser Frauen mit Kinderwunsch steht an erster Stelle daher die Gewichtsreduktion. Frauenärzte sollten das Thema mit ­Patientinnen im fertilen Alter aktiv ansprechen und auch mögliche Lösungsansätze anbieten. Durch eine Gewichtsreduktion lässt sich die Erfolgsrate reproduktionsmedizinischer Maßnahmen signifikant steigern. Frauen, die sich in eine reproduktionsmedizinische Behandlung begeben, sollten vor Beginn der Behandlung daher nachdrücklich über den Nutzen einer Gewichtsreduktion aufgeklärt werden.

Auch nach der Entbindung hat der mütterliche Stoffwechsel noch Auswirkungen auf das Leben des neugeborenen Kindes. Schon lange ist bekannt, dass die Kinder adipöser Mütter häufig mit sehr niedrigem Geburtsgewicht zur Welt kommen, und schließlich entdeckte man den intrauterinen Energiemangel als Ursache. Der Fetus fährt energetisch aufwendige Prozesse zurück, er „lernt“ in utero, mit wenig Energie auszukommen. Durch die perinatale Persistenz der Energiesparmechanismen werden die Kinder so „programmiert“, dass sie auch später versuchen, mit wenig Energie aus­zukommen. Überschüssige Energie wird in Fettgewebe gespeichert, was den Weg in die eigene Adipositas des Kindes vorbestimmt. Zu den epigenetischen Mechanismen dieser Steuerung gehören die Methylierung der DNA, die Veränderung der Histonstruktur und die Beeinflussung der Genexpression durch Mikro-RNA.

Basierend auf dem Vortrag von Prof. Dr. Arya Sharma anlässlich des DGGG-Kongresses 2020

Bildnachweis: ttsz, EgudinKa (iStockphoto); privat

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