Wer Altern behandeln will, muss Altern verstehen. Und das möglichst auf einer molekularen Grundlage. Nur Abläufe, deren physiologische und pathophysiologische Zusammenhänge wir begriffen haben, können wir auch gezielt beeinflussen. Das gilt für Krankheiten im Allgemeinen, das gilt auch für die „Krankheit Altern“.
Im Jahr 2013 erfolgte in dem renommierten Journal „Cell“ eine Publikation, die für die Anti-Aging-Medizin von großer Bedeutung war. Eine Gruppe weltweit führender Molekularbiologen beschrieb unter dem Titel „The Hallmarks of Aging“ neun entscheidende Faktoren, die für das biologische Altern verantwortlich sind. Ihr Fazit: Altern ist inzwischen auf einer molekularen Grundlage verstanden. Mehr noch: All diese Prozesse lassen sich – zumindest in Ansätzen – auch gezielt beeinflussen. Im Folgenden werden die wichtigsten dieser Alterungsfaktoren kurz vorgestellt, wobei sich die Darstellung im Wesentlichen auf diejenigen Faktoren beschränkt, aus denen sich bereits heute praktische Therapieansätze ableiten lassen.
Hierbei handelt es sich um eine der ersten, grundlegenden und inzwischen sicherlich auch eine der „populärsten“ Alterungstheorien. Formuliert wurde sie in den 1950er-Jahren unter dem Namen „Freie Radikale Theorie“ durch Denham Harman. Freie Radikale sind Moleküle, deren Elektronenhülle ein ungepaartes Elektron aufweist. Dies verleiht ihnen eine enorme Reaktionsfähigkeit. In dem Bestreben, das fehlende Elektron aus einer anderen Verbindung zu sich herüberzuziehen, schädigen freie Radikale Lipidmembranen, Zellorganellen, die DNA und andere Strukturen. Dabei verwandeln sie die geschädigte Verbindung häufig ihrerseits in ein freies Radikal. Nach Harmans Theorie führt die Akkumulation dieser Schäden zu Funktionseinbußen, welche die Grundlage des biologischen Alterungsprozesses bilden. Da es sich bei den freien Radikalen im Wesentlichen um aggressive Sauerstoffverbindungen handelt, bürgerte sich diesbezüglich der Begriff „oxidativer Stress“ ein.
Populär wurde die Theorie zum einen, da hier erstmals ein grundlegender chemischer Prozess als allgemeiner Faktor für das biologische Altern beschrieben wurde. Beliebtheit erlangte sie aber nicht zuletzt, weil sich aus ihr höchst praktische Therapien ableiten ließen. Wenn oxidativer Stress Schäden anrichtet, dann lassen sich diese Schäden durch antioxidative Substanzen verhindern, so der prinzipiell logische Schluss. Antioxidantien stehen in Form der Vitamine A, C und E preiswert zur Verfügung. Eine hoch dosierte Supplementierung mit diesen „Radikalen-Fängern“ war daher eine der frühesten Therapieansätze der Anti-Aging-Medizin.
Diesbezüglich haben die Studien der vergangenen Jahre jedoch eher enttäuschende Ergebnisse erbracht. Hoch dosierte Vitamine alleine senken weder das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch für Karzinome. Und auch das Altern scheinen sie nicht positiv zu beeinflussen. Eine der Gründe scheint darin zu liegen, dass Antioxidantien offensichtlich nicht als hochdosierte Einzelsubstanzen, sondern eher als „antioxidatives Netzwerk“ wirken. Zu diesem Netzwerk zählen auch die 30-50.000 sekundären Pflanzenstoffe, die inzwischen identifiziert wurden. „Fünfmal täglich Obst oder Gemüse“ scheint daher eine bessere antioxidative Strategie zu sein als die Gabe hoch dosierter antioxidativer Vitamine in Form von Supplementen.
Entzündliche Reaktionen sind eine Antwort des Körpers auf eindringende Pathogene bzw. auf Gewebeverletzungen. Als solche spielen sie eine wichtige Rolle für die Gesunderhaltung des Organismus. Immer mehr kristallisiert sich jedoch heraus, dass Entzündungen ein durchaus janusköpfiges Phänomen sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie keine akute Antwort auf pathogene Mikroben oder Traumata darstellen, sondern sie sich verselbstständigen und auf einem niedrigen Niveau persistieren. Dann können Entzündungen zu einem eigenständigen Risikofaktor werden. Chronisch niederschwelligen Entzündungen (silent inflamation) sind offensichtlich nicht nur die Grundlage für zahlreiche degenerative Erkrankungen, sondern auch ein wichtiger Faktor für das biologische Altern an sich. Für diesen Zusammenhang wird inzwischen der Begriff Inflamm-Aging verwendet. Die Quellen aus denen sich chronische Entzündungen speisen, sind dabei durchaus unterschiedlich. Zum einen sind es persistierende Entzündungen, die auch klinisch nachweisbar sind. Dazu gehört zum Beispiel eine Parodontitis oder auch eine Prostatitis. Eine weitere wichtige Quelle chronischer Inflammation ist das Fettgewebe. Dies ist längst nicht mehr nur ein Speicher für übermäßig zugeführte Kalorien. Es ist ein eigenständiges, überaus aktives endokrines Organ. Vor allem sezerniert Fettgewebe zahlreiche proinflammatorische Zytokine wie Interleukin 6, Interleukin 2 oder den Tumornekrosefaktor alpha. Eine Reduktion von Körperfett ist somit auch immer eine antiinflammatorische Therapie.
Zunehmend stellt sich heraus, dass Zucker ein wichtiger Alterungsprozess ist. Bei dem Prozess der Glykosylierung verbindet sich Zucker, hauptsächlich Fructose und Galactose, mit Proteinen. Über mehrere Zwischenschritte führt dies zu irreversiblen Verbindungen der Proteine untereinander und damit auch zu Funktionseinbußen. Die derart geschädigten Proteine werden als Endprodukte fortgeschrittener Glykosylierung (Advanced Glycation Endproducts, AGE) bezeichnet. Sie sind die Hauptursache für die Ausbildung von Gefäß- und Nierenschäden bei Diabetikern. Glykosylierte Proteine sind aber nicht nur in ihrer Funktion beeinträchtigt, sie binden auch an einen eigenen Rezeptor (Rezeptor of Advanced Glycation Endproducts, RAGE), der wiederum oxidativen Stress und chronische Inflammation auslöst. Glykierte Proteine bewirken auf diese Weise eine Kaskade von Prozessen, die biologisches Altern beschleunigen.
Präventiv und therapeutisch steht eine Einschränkung des Zuckerkonsums an erster Stelle. Aber auch eine Reihe älterer Antidiabetika erfährt vor diesem Hintergrund eine Renaissance, weil durch sie Glykosylierungsprozesse gezielt reduziert werden. Neben derα-Liponsäure ist hier vor allem das Metformin zu nennen. Metformin ist ohne Zweifel derzeit eines der interessantesten pharmakologischen Substanzen zur Beeinflussung des Alterungsprozesses, wobei es seine Wirkung offensichtlich nicht nur über die Absenkung des Blutzuckers, sondern vor allem über eine Modifikation von Signalwegen des Energiestoffwechsels entfaltet.
Telomere gelten inzwischen als die „biologischen Uhren“ in unseren Körperzellen. Ihre Entdeckung verdanken wir vor allem den grundlegenden Arbeiten von Elisabeth Blackburn und ihrem Team, welches dafür 2009 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Telomeren sind repetitive, nicht kodierende DNA-Sequenzen, die an den jeweiligen Enden der Chromosomen sitzen und eine zentrale Rolle für die Integrität der DNA spielen. Bei jeder Zellteilung verkürzen sich diese Telomeren. Ist eine kritische Untergrenze der Telomerenlänge erreicht, erfolgt keine weitere Replikation. Die Zelle stirbt ab. Die Telomerenlänge ist damit eng korreliert mit der noch verbleibenden Lebenszeit der Zelle.
Die Metapher der „biologischen Uhr“ hat natürlich auch ihre Grenzen. Während mechanische Uhren gleichmäßig und von der Außenwelt weitgehend unbeeinflusst ticken, reagieren Telomere auf Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren. Insbesondere chronischer Stress führt dabei offensichtlich zu einer schnelleren Verkürzung der Telomere. Telomere lassen sich jedoch auch wieder aufbauen. Hierfür gibt es ein spezielles Enzym, die Telomerase. Die Telomerase ist auch der Grund dafür, dass bestimmte Zellen offensichtlich eine unbegrenzte Teilungsfähigkeit aufweisen. Dies gilt zum Beispiel für Stammzellen, insbesondere jedoch für Keimzellen. Diese sind prinzipiell biologisch unsterblich, was sie vor allem ihrer hohen Konzentration an Telomerase verdanken. Ein neuer Ansatz in der Anti-Aging-Medizin besteht nun in der Gabe von Telomerase Aktivatoren. Damit wird versucht, auch Körperzellen eine längere Lebenszeit zu verleihen. Zu den potentesten Telomerase-Aktivatoren gehört offensichtlich Astragalus membranaceus, das in der traditionellen chinesischen Medizin seit Langem bekannt ist.
Die Frage, inwieweit Altern genetisch bedingt ist und welche Rolle Umwelt und Lebensstil dabei spielen, wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Belastbare Daten liefern hierzu Zwillingsstudien aus den 1990er-Jahre, die zeigen konnten, dass genetische Faktoren lediglich zu 20–30 % auf die Lebenserwartung Einfluss nehmen. Der Lebensstil ist also der bei Weitem wichtigere Faktor, wenn es um das gesunde Altern geht. Bei zahlreichen Modellorganismen der Altersforschung wie dem Fadenwurm C. elegans oder der Drosophila-Fliege konnten „Langlebigkeitsgene“ identifiziert werden, welche die Lebenserwartung dieser Organismen deutlich erhöhen. Ähnliche Gene gibt es offensichtlich auch beim Menschen, zum Beispiel das Gen FOXO3. Allerdings ist deren Auswirkung auf die Lebenserwartung sehr viel weniger ausgeprägt als bei den einfachen Organismen, mit denen die Altersforschung arbeitet.
Während die klassische Genetik, also eher wenig Einfluss auf die Lebenserwartung hat, scheint eine neue Subdisziplin der Genetik von immer größerer Bedeutung: die Epigenetik. Die Epigenetik kann als ein Bindeglied zwischen Umwelt und Erbanlagen betrachtet werden, denn sie erlaubt es, die genetische Expression kurzfristig an geänderte Außenbedingungen anzupassen. Epigenetische Veränderungen werden darüber hinaus zunehmend als entscheidender Alterungsfaktor angesehen. Sie stellen inzwischen auch einen wertvollen diagnostischen Biomarker zur Bestimmung für Alterungsprozesse dar (Horvath`s Clock).
In seinem jüngst veröffentlichten Buch „Das Ende des Alterns“ behauptet der Harvard Genetiker David Sinclair, dass epigenetische Veränderungen der alles entscheidende Faktor für das biologische Altern sind. Sinclair spricht hier vom „epigenetischen Rauschen“ und stellt die These auf, damit eine neue „einheitliche Theorie des Alterns“ begründet zu haben. Auch wenn Sinclair zweifellos zu den führenden Wissenschaftlern innerhalb der Altersforschung gehört, gibt es an dieser Theorie doch erhebliche Zweifel. Die meisten Biogerontologen halten Altern auch weiterhin für ein multifaktorielles Geschehen. Die zuvor erwähnten „Schrittmacher des Alterns“ sind somit mehr als lediglich ein Epiphänomen des „epigenetischen Rauschens“.
Von einer einheitlichen Theorie des Alterns sind wir demnach auch weiterhin weit entfernt. Und damit wohl auch von einer einfachen Therapie des Alterungsprozesses. Festzuhalten bleibt jedoch: Wir verstehen Altern immer besser. Und mit diesem Verständnis eröffnen sich immer mehr Möglichkeiten, Altern gezielt zu beeinflussen.
Der Autor
Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk
Metropol Medical Center Nürnberg
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin (GSAAM)
Literatur beim Autor