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Gynäkologie

Interview

Sexuelle Funktionsstörungen und die Kontrazeption

Interview mit Dr. med. Ludwig N. Baumgartner

15.10.2021

Ist die Pille ein Lustkiller? Viele Patientinnen sind verunsichert, finden aber keinen Weg, über ihre Probleme zu reden. Das muss der Frauenarzt lostreten, sagt Dr. Ludwig Baumgartner. Ein Gespräch über Physiologie, Evolutionsbiologie und Endokrinologie – aber auch über Kommunikation, Stimmung und Intimität.

Herr Dr. Baumgartner, wie häufig sind Sexualfunktionsstörungen Thema in Ihrer Sprechstunde?

Dass Sexualfunktionsstörungen vor allem ein großes Tabuthema in der Praxis sind, ist mir gerade erst wieder begegnet. Eine junge, aufgeklärte Patientin kam wegen rezidivierender vaginaler Infektionen und ich habe einfach die Frage gestellt, ob Oralverkehr eine Rolle spielen könnte. Da hat sie mich fassungslos angesehen und gefragt: „Was bitte ist Oralverkehr?“ Es ist schon deshalb für uns Frauenärzte wichtig, sich mit dem Thema Sexualfunktionsstörung auseinanderzusetzen, um in solcher Situation auch das richtige Wording parat zu haben.

Wie häufig sind diese Störungen in der Praxis?

Ich würde mal sagen, das spielt bei jeder Patientin fast immer eine Rolle. Wir wissen ja, dass die Patientin diese Probleme nicht von sich aus thematisiert. Sie möchte gerne gefragt werden, und so habe ich es zur täglichen Routine gemacht, nachzufragen: „Sonst alles klar so mit der Sexualität oder beim ­Verkehr?“ Die erste Antwort lautet dann immer: „Ja, alles bestens.“ Ich lasse das erst mal laufen und im späteren Gespräch kommt oft die Situation, dass die Patientin das Thema aufgreift: „Ich hätte da doch noch ein Anliegen.“

Um auf die Frage „Wie häufig …“ zurückzukommen: Die Daten sagen, 30–50 % aller Frauen entwickeln im Laufe ihres Lebens irgendwann eine Sexualfunktionsstörung. Ich glaube die Zahl ist viel höher. Man muss nur nachfragen, aufmerksam zuhören und ein gutes Verhältnis zu den Patientinnen pflegen, um auf solche Tabuthemen zu stoßen.

Welche Probleme schildern Ihre Patientinnen am häufigsten?

Der Klassiker bei sexuellen Funktionsstörungen ist heutzutage die Lustlosigkeit: „Ich habe keinen Bock mehr auf Sex, da bin ich überfordert und das macht mir alles keinen Spaß mehr.“ Häufig werden die persönlichen Lebensumstände dafür herangezogen, aber ich denke, es hat auch viel mit der gesellschaftlichen Situation zu tun: Sex ist allgegenwärtig oder wie das so schön heißt: Wir sind oversexed, aber underfucked.

Wir unterscheiden ja vier verschiedene Arten von Fun­k­­­tionsstörung: die Appetenzstörung, die Erre­gungs­störung, die Orgasmusstörung und den Schmerz. Oft sind alle irgendwie miteinander ver­bunden und es liegt an uns als Frauenärzte herauszufinden, ob wir es mit einer isolierten Appe­tenz­störung oder mit einem größeren Ganzen zu tun haben.

In welcher Lebensphase treten solche Probleme vor allem auf?

Die Lebensphase spielt schon eine Rolle bei den sexuellen Funktionsstörungen. Junge Frauen könnten oft alles, haben aber keine Ahnung und setzen sich unter Leistungsdruck. Bei den älteren Frauen ist es umgekehrt. Die haben richtig viel Ahnung, aber es treten – mitunter auch hormonbedingt – schon Störungen auf, die für Schmerzphänomene sorgen, die dann einer gewissen Lustlosigkeit den Boden bereiten. Man kann die Patientinnen aber nicht in Altersschubladen einteilen. Es gibt altersunabhängig jedwede Problematik.

Welche Daten finden sich dazu in der Literatur?

In der Literatur ging es jahrelang nur um sexuelle Funktionsstörungen des Mannes, weil man die auch medikamentös therapieren kann. Bei der Frau schien das alles ganz normal zu sein, aber das hat sich Gott sei Dank geändert. Es gibt reichlich Studien, aber aus dem gesammelten Material – einschließlich Metaanalysen – ergibt sich kein klares Bild. Das fängt schon bei den Ursachen an und letztlich gibt uns die Literatur auch keine klaren therapeutischen Optionen an die Hand.

Welchen Einfluss hat die Kontrazeption auf die Sexualität?

Der Stellenwert der Kontrazeption auf die Sexualität wird von zwei Seiten diskutiert werden müssen. Zum einen gibt eine hoch wirksame – also effiziente und gut verträgliche – kontrazeptive Maßnahme der Frau das Bewusstsein, geschützt zu sein vor einer ­ungewollten Schwangerschaft. Sie kann sich so viel befreiter und letztlich lustvoller ihrer Sexualität hingeben. Andererseits behaupten viele Frauen – und das durchaus glaubwürdig und nachvollziehbar –, dass die Kontrazeptionsmaßnahme sie in ihrer Lust in irgendeiner Form beschränkt. Das muss man tatsächlich auch wieder differenziert betrachten. Die Hardliner sagen ja: Lustlosigkeit liegt nicht an der Pille oder am Verhütungsmittel, die liegt am Typen. Da mag was dran sein und sicher gibt es auch Schnittmengen, aber besonders interessant finde ich die Aussage der Evolutionsbiologen. Die sagen: Einer Frau mit zuverlässiger Kontrazeption wurde das Fortpflanzungspotenzial entzogen und sie ist dann nicht mehr bereit, sich ihrer Lust hin­zugeben – denn wofür? Zusammengefasst: Die ­Kontrazeption gibt Sicherheit, blockiert aber ­womöglich auch die ungehinderte Lust.

Landläufig gilt ja gerade die Pille als Lustkiller. Führen KOK tatsächlich zu einer Abnahme der Libido?

Das lässt sich auf Basis von Studiendaten nicht belegen, die sind sehr widersprüchlich. Aber betrachten wir uns doch mal die Fakten: KOK sind zusammengesetzt aus einer Estrogen- und einer Gestagenkomponente, aber eins tun alle: sie glätten den physiologischen Hormonzyklus. Die periovulatorische Phase, in der Frauen die größte Lust verspüren, weil sie dann der Fortpflanzung am nächsten stehen – und das ist ihr evolutionsbiologischer Auftrag – fällt schlicht aus. Ich denke schon, dass das einen maßgeblichen ­Einfluss auf die Libido hat. Es geht nicht um die einzelnen Komponenten einer Pille, vielmehr um den Wegfall des physiologischen Peaks um die Ovulation herum, die den Frauen die Lust schafft, die es dann umzusetzen gilt.

Das klingt sehr überzeugend. Trotzdem die Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Estrogendosis oder der Art des Gestagens und der Libido?

Wir haben unterschiedliche Estrogentypen in den KOK zur Verfügung. Wir wissen, dass Ethinylestradiol, das wir seit über 60 Jahren in Pillen verwenden, eine große Stimulation des Sexualhormon-bindenden Globulins (SHBG) nach sich zieht. Das wiederum ist in der Lage, das freie Testosteron wegzufischen – und Testosteron wird ja immer gerne als Libidohormon ins Feld geführt.

Gleichzeitig haben wir durch die Unterdrückung der ovariellen Stimulation auch eine geringere Ausschüttung an 17ß-Estradiol. Wir sehen anhand von einzelnen Untersuchungen, dass KOK, die ß-Estradiol enthalten, eine Verbesserung der Situation nach sich ziehen können – vielleicht über die lokale Optimierung der Estrogenversorgung. Die Gestagene üben bekannterweise unterschiedliche Partialeffekte aus. Die antiandrogenen Gestagene macht man schnell verantwortlich für den Libidoverlust. Das unterstützen die Daten aber nicht. Umgekehrt wissen wir, dass Levonorgestrel, das eher androgen wirkt und die SHBG-Bildung niedrig hält, auch keine Verbesserung der Libido nach sich ziehen muss. Die Pille wegen der Libido zu wechseln, kann mal funktionieren – schließlich gibt es auch einen Placeboeffekt. Die publizierte Datenlage gibt das jedenfalls nicht her. Dass Frauen sich mit natürlichen Estrogenen wie 17ß-Estradiol oder jetzt auch Estetrol besser fühlen als mit Ethinylestradiol, ist für mich biologisch absolut plausibel. Die Gestagene werden in ihrer Wirkung auf die Libido meiner Meinung nach eher überschätzt.

Wie sieht es aus, wenn Sie KOK mit anderen Kontrazeptionsmethoden vergleichen?

Bei kontrazeptiven Maßnahmen geht es immer darum, Wirksamkeit und Sicherheit zu berücksichtigen. Und wirksame Kontrazeption heißt immer hormonelle Kontrazeption. Außer operativen Methoden vielleicht, aber das geht den meisten Frauen dann doch zu weit. Mit hormonellen Methoden glätten wir die natürlichen Biorhythmen der periovulatorischen Estrogen- und Testosteron-Peaks und torpedieren damit die Libido. Bei IUS oder Kupferspiralen ist das anders, sie beeinflussen die Ovulation nicht. Und tatsächlich werden unter diesen Methoden weniger Libido­störungen berichtet. Dafür gibt es dann andere Diskussionen – manche Frauen wollen keinen Fremdkörper in sich, andere kommen mit Kupfer oder der Blutungssituation nicht zurecht. Sie wirken sich aber nicht auf das systemische Hormonsystem aus, und wenn Patientinnen mit einem KOK unzufrieden sind, lohnt es sich, auch solche Alternativen anzusprechen.

Wenn nicht die Kontrazeption, wo liegen dann die Gründe für die mangelnde Lust?

Viele Frauen haben heute tatsächlich eine generelle Hormonaversion. Die Pillen werden reihenweise weggeworfen, weil die Frauen meinen, sie könnten ihre Kontrazeption auch anderweitig sicherstellen. Dass das nicht gelingt, zeigen die weiterhin nicht rückläufigen Abtreibungszahlen in Deutschland. Frauen machen es sich mitunter leicht, indem sie jedwede Veränderung ihres „Lifestyles“ der Pille in die Schuhe schieben. Wie die Hardliner das sehen und wie die Evolutionsbiologen, habe ich ja schon ausgeführt. Worauf wir aber noch zu sprechen kommen sollten: Die Sexualität von Frauen und Männern unterscheidet sich ganz grundsätzlich. Frauen haben – im Gegensatz zu Männern – keine initiative Sexualität, sondern eher eine rezeptive. Für Frauen sind drei Dinge in der Sexualität wichtig: Stimmung, ­Setting und Beziehung. Das wird viel zu oft außer Acht gelassen. Wir sehen ja, dass gerade am Anfang einer Beziehung Lustlosigkeit quasi keine Rolle spielt. Das kommt erst im Laufe der Zeit. Das bedeutet nicht, dass die ­Beziehung schlechter geworden ist, oft im Gegenteil: Man muss sich nicht mehr durch geschlecht­liches Verkehren seiner Zuneigung vergewissern, das passiert auf ganz anderen Ebenen. Das ist für Männer schwer nachzuvollziehen, weil die weiter ihrem evolutionsbiologischen Auftrag nachlaufen.

Wie sieht die Sexualität der Frau verglichen damit aus?

Frauen hängen nicht an der Penetration und am Orgasmusgeschehen, sondern an der Intimität. Die unterschiedlichen Sichtweisen von Mann und Frau schafft oft diese Lustlosigkeit, über die dann in der Praxis gesprochen wird. Männer brauchen Sex, um sich zu entspannen, Frauen müssen entspannt sein, um guten Sex haben zu können. Und das wird torpediert von den Gedanken an Familie, Arbeit, Geld und Verwandte. Erst wenn diese Problemkreise gelöst sind, kann eine Frau sich wirklich öffnen. Diesen Unmut müssen wir ansprechen, aufmachen und damit lösen. Die Lustlosigkeit der Frau ist oft Ausdruck mangelnder Kommunikation mit dem Partner. Und auch darauf muss man die Frauen hinweisen, dass sie nicht allein sind mit dieser Problematik und dass es etwas Normales ist. Das heißt nicht, dass es so bleiben soll. Aber alles auf das hormonelle Verhütungsmittel zu schieben, das ist in der Tat zu einfach.

Sie haben gerade Lösungen angesprochen – wie können Sie den Frauen denn konkret helfen?

Die konkrete Hilfe für die Frau besteht erst einmal darin, für sie da zu sein. Das hört sich banal an, ist aber eins der wichtigsten Themenfelder im gynäkologischen Alltag. Zunächst heißt das nämlich für uns Frauenärzte, diese Problemfelder überhaupt bei der Patientin anzusprechen. Das tun wir in der Praxis viel zu selten und ich sage Ihnen auch warum. Dafür gibt es vier Gründe:

1. Es ist uns superpeinlich.
2. Wir haben davon keine Ahnung.
3. Wir denken, da kann man doch eh nichts tun.
4. Wo sollen wir die Zeit hernehmen, dafür werden wir nicht bezahlt.

Dabei ist es so wichtig, den Frauen die Tür zu öffnen und sie nach ihrer Sexualität zu fragen. Und wenn die Frau sich durch diese Fragen angenommen und ernst genommen fühlt, ist ein großer Teil des Problems zumindest schon mal „angelöst“. Dann wird sie sich nämlich auch trauen, das Thema von sich aus anzusprechen. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal, aber irgendwann.

Man muss dabei auch keine Angst haben vor der großen zeitlichen Ressource. Man kann weitere Termine vereinbaren oder spezialisierte Kollegen ins Boot holen, wenn es einem geboten erscheint. Zunächst gilt es aber, das Befinden der Frau ernst zu nehmen und ihr ein Gesprächsangebot zu machen.

Dazu helfen die fünf einfachen Fragen, die im ­„Decreased Sexual Desire Screen (DSDS) zusammengefasst sind:

1. Hatten Sie mal guten Sex?
2. Ist der weg?
3. Leiden Sie darunter?
4. Wollen Sie ihn zurückhaben?
5. Haben Sie Schmerzen oder hatten Sie Operationen?

Diese Fragen kurz zu erörtern, dauert keine zwei Minuten. Und nur wenn die ersten vier Fragen mit „Ja“ beantwortet werden und die fünfte mit „Nein“, hat die Frau eine sexuelle Funktionsstörung. Wichtig ist der persönliche Leidensdruck – wenn nur der Partner leidet, ist das keine sexuelle Funktionsstörung der Frau.

Herr Dr. Baumgartner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Eine ausführlichere Version des Interviews mit Dr. Baumgartner finden Sie in unserem Podcast. Dort geht es u. a. auch um die Fragen, warum die Männer das eigentliche Problem sind und warum der Ansatz von Masters & Johnson veraltet ist.

Der Autor

Dr. med. Ludwig N. Baumgartner
Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Marienplatz 3, 85354 Freising

baumgartner@lnbaumgartner.de

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