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Allgemeinmedizin

Hypertonie

Ist Blutdruck wirklich unisex?

Prof. Dr. med. Burkhard Sievers

2.10.2023

Geschlechtsspezifische Blutdruckgrenzwerte in den Leitlinien? Fehlanzeige! Studien legen indes nahe, dass geschlechtsspezifische Blutdruckgrenzwerte und eine frühere Behandlung des Blutdrucks bei Frauen sinnvoll und prognostisch relevant sind.

Bluthochdruck ist eine der häufigsten Volkskrankheiten in Deutschland und weltweit. Zugleich ist die arterielle Hypertonie einer der wichtigsten Risikofaktoren für die Entstehung von Herz-Kreislauf- sowie Gefäßerkrankungen und der bedeutendste Risikofaktor für die Mortalität von Frauen weltweit.

Da es in Deutschland mit 51 % mehr Frauen gibt als Männer, ist ein differenzierter Blick unausweichlich. Bis zum 44. Lebensjahr tritt die Bluthochdruckerkrankung bei Männern und Frauen etwa gleich häufig auf. Das ändert sich zwischen dem 45. und 64. Lebensjahr: Hier haben bereits 34 % der Männer und 29 % der Frauen einen zu hohen Druck in den Gefäßen. Bei den ≥ 65-Jährigen gleicht sich der Anteil von ­Männern und Frauen an und liegt bei 50 %, ab 70 Jahren sogar bei 75 % [1].

Umso erstaunlicher ist es, dass die aktuellen europäischen Leitlinien für die Diagnostik und Therapie des Bluthochdrucks keine unterschiedlichen Grenzwerte für Frauen und Männer ausweisen, und selbst für die Therapie keine geschlechtsspezifischen Dosierungsempfehlungen existieren [2]. Studien deuten jedoch darauf hin, dass beide Aspekte durchaus ­relevant sind [3-5].

In einer populationsbasierten Kohortenstudie mit mehr als 27 000 Teilnehmern ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung konnte gezeigt werden, dass bei ­Frauen ein systolischer Blutdruck von 110–119 mmHg ein vergleichbares Herzinfarktrisiko ergab, wie Blutdruckwerte > 160 mmHg bei Männern. Auch das Herzinsuffizienzrisiko und das Schlaganfallrisiko waren bei Frauen im Vergleich zu Männern ab niedrigeren Blutdruckwerten erhöht (110–119 mmHg vs. 120–129 mmHg und 120–129 mmHg vs. 140–149 mmHg). Darüber hinaus offenbarte sich eine stärkere Assoziation zwischen dem systolischen Blutdruck und späteren kardiovaskulären Erkrankungen bei jüngeren Frauen im Alter von < 52 Jahren [3].

In der SPRINT-Studie, eingeschlossen waren 9 361 Patienten mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko (kein Diabetes), zeigte sich eine um fast 25 % geringere Mortalität und eine um 33 % geringere kardiovaskuläre Ereignisrate (Schlaganfälle, Herzinfarkt, kardiovaskulärer Tod) in der Gruppe mit dem Zielblutdruck < 120 mmHg systolisch. Der Rückgang kardiovaskulärer Erkrankungen war hochsignifikant und die strengere Blutdruckeinstellung vorteilhaft [6], was die amerikanischen Leitlinien in ihren Empfehlungen aufgegriffen haben [7]. Sie empfehlen, verglichen mit den europäischen Leitlinien [2], eine risikoassoziierte medikamentöse Behandlung bereits bei 10 mmHg niedrigeren Blutdruckgrenzwerten (ab 130/80 mmHg). So könnten vermutlich Frauen mehr profitieren, wenn sie auch bei uns nach den amerikanischen Leitlinien behandelt werden, obwohl auch diese nicht geschlechtsspezifisch differenzieren. Aktuell fehlen hierzu größere Studien und wissenschaftliche Evidenz. Bisherige Studien wurden nicht für eine geschlechtsspezifische Auswertung designed und der Anteil der Frauen war häufig zu gering. Dennoch liegt die Festlegung geschlechtsspezifische Grenzwerte für die Diagnose einer Hypertonie nahe [1,5,8].

Auswirkungen auf die Blutdruckregulation

Neben Geschlechtschromosomen beeinflussen ­Ge­schlechts­hormone Mechanismen der Blutdruck­regula­tion – vor allem das Renin-Angiotensin-­Aldosteron-System, die Wirkung von Stickstoffmonoxid, Bradykinin sowie natriuretischem Peptid – und bedingen geschlechtsspezifische Unterschiede von kardiovaskulären Risikofaktoren und Komorbiditäten.

Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern spiegeln sich auch in der longitudinalen Blutdruckentwicklung, dem Blutdruckverhalten über die Lebenszeit, wider. Darüber hinaus spielen der sozioökonomische Status, Bildungsgrad und Umweltfaktoren eine Rolle.

Bei beiden Geschlechtern steigt der Blutdruck über die Lebenszeit an, bei Frauen jedoch deutlich steiler als bei Männern [9]. So haben Frauen zwischen 20 und 30 Jahren regelhaft niedrige bis niedrig ­normale Blutdruckwerte, häufig zwischen 100 und 110 mmHg systolisch und 60–65 mmHg diastolisch, Männer hingegen eher zwischen 120 und 130mmHg systolisch und 70–75 mmHg diastolisch [1]. Hätten beide mit 55 Jahren einen Blutdruck von 138/85 mmHg, wäre dieser nach den europäischen Leitlinien noch im hochnormalen Bereich und nicht medikamentös behandlungsbedürftig.

Allerdings beträgt der Blutdruckanstieg in diesem Beispiel bei der Frau über die Lebenszeit etwa 30 mmHg systolisch und 20 mmHg diastolisch, beim Mann nur etwa 10 mmHg systolisch und 10 mmHg diastolisch [1]. Studien weisen darauf hin, dass die Steilheit des longitudinalen Blutdrucksanstiegs auch eine Rolle für die spätere Entwicklung von Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen spielt [5,9].  

Da die Grundlagen der Bluthochdruckentwicklung bei Frauen bereits in jüngerem Lebensalter als bei ­Männern entstehen, ist es wichtig, Gefäßveränderungen schon in frühen Lebensjahren zu erkennen. Dies gelingt etwa durch die Messung der Pulswellenlaufgeschwindigkeit und des Augmentationsindexes. Die Gefäßsteifigkeit ist ein unabhängiger Prädiktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und die Entwicklung einer Hypertonie. Eine vermehrte Gefäßsteifigkeit führt zu einer Degeneration der elastischen Fasern und Kollageneinlagerungen in den Arterien mit nachfolgender mikrovaskulärer Schädigung von Niere, Gehirn sowie Herz [5]. Bluthochdruck führt bei ­Frauen, im Vergleich zu Männern, zu einer stärkeren Zunahme der Gefäß- und Herzmuskelsteifigkeit mit erhöhtem Risiko für Vorhofflimmern, diastolische Herzinsuffizienz und Schlaganfall. Außerdem haben sich nächtlich erhöhte systolische Blutdruckwerte mit fehlendem Blutdruckabfall bei Frauen als stärkerer Prädiktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und Mortalität herausgestellt als bei Männern [5].

Bei den strukturellen Veränderungen des Herzes gibt es ebenso geschlechtsspezifische Unterschiede. So haben Frauen häufiger eine linksventrikuläre Hypertrophie als Männer, die durch eine antihypertensive Therapie weniger beeinflussbar ist als die der Männer. Frauen mit Hypertonie weisen auch häufiger eine linksatriale Dilatation in Zusammenhang mit Vorhofflimmern auf als Männer.

Zu beachten sind auch frauenspezifische Risiko­faktoren für die Entstehung von Bluthochdruck: Schwangerschaftshypertonie, Präeklampsie, polyzystische Ovarien, Autoimmunerkrankungen, Einnahme von Ovulationshemmern, Menopause, soziokulturelles Umfeld [1]. Darüber hinaus begünstigen traditionelle Risiken wie Rauchen, Übergewicht, ­Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, obstruktive Schlafapnoe und Nierenfunktionsstörungen das ­Auftreten einer arteriellen Hypertonie, bei Männern zusätzlich erektile Dysfunktion und Alopezie.

Antihypertensiva verursachen mehr Nebenwirkungen bei Frauen

Geschlechtsgetrennte Empfehlungen bezüglich der antihypertensiven Therapie gibt es bislang nicht. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik sind jedoch bekannt. Die Geschlechtshormone, vor allem die Estrogene, spielen eine wesentliche Rolle in der Interaktion von zellulären Mechanismen. Hier kommt es insbesondere zur Beeinflussung der Aktivität von Cytochrom P450 und dessen Isoenzymen [8]. Frauen berichten häufiger über Nebenwirkungen von antihypertensiven ­Medikamenten als Männer, außer bei Mineralokortikoiden, die in der Regel gut verträglich sind. Bei ­Frauen treten während einer antihypertensiven Therapie mit Diuretika häufiger Hyponatriämien, Hypokaliämien, Arrhythmien und auch Harnwegsinfekte auf als bei Männern, unter Therapie mit Calciumantagonisten Ödeme und unter ACE-Hemmer-Therapie Reizhusten. Beta-Blocker und Calciumantagonisten können zu einer verstärkten Blutdrucksenkung bei Frauen ­führen. Unter den Beta-Blockern ist Bisoprolol zu bevorzugen, da es CYP2D6-unabhängig in der Leber verstoffwechselt wird. Die CYP2D6-Isoenzym­aktivität ist bei ­Frauen oft vermindert, wodurch es zu einem verlangsamten Abbau, erhöhter Plasmakonzentration mit stärkerer Wirkung und Nebenwirkung der Medikamente kommt, außerdem häufig zu Interaktionen durch andere Medikamente und konkurrierende Enzympathways [1,5,10,11].

FAZIT

Zunehmend weisen Daten darauf hin, dass der Blutdruck nicht als „unisex” zu betrachten ist und Blutdruckgrenzwerte sowie Bluthochdruck­behandlung geschlechtsspezifisch sein sollten. Frauenspezifische Risikofaktoren und die Blutdruckentwicklung über die Lebenszeit müssen berücksichtigt werden. Mit der medikamentösen Therapie sollte vor allem bei Frauen in niedrigster Dosierung begonnen werden, um eine bessere Verträglichkeit und Therapietreue zu erreichen. Gegebenenfalls kann von den Dosisempfehlungen nach unten abge­wichen werden. Frauen benötigen in der Regel niedrigere Dosierungen als Männer, um eine optimale Wirkung zu erzielen.

AT1-Blocker, Mineralokortikoide und Bisoprolol als Beta-Blocker sind bei Frauen zur medikamentösen Blutdrucksenkung zu bevorzugen. Auf die verstärkte Blutdrucksenkung durch Beta-Blocker und Calciumkanalblocker ist bei Frauen zu ­achten.

Studien, die die Evidenz geschlechtsspezifischer Blutdruckgrenzwerte, des Beginns einer anti­hypertensiven Therapie und geschlechtsspe­zifische Dosierungsempfehlungen belegen, fehlen derzeit, sind aber dringend notwendig. Bis dahin kann eine frühzeitige Behandlung von Frauen mit kardio­vaskulärer Risikokonstellation mei­nes Erachtens bereits ab Blutdruckwerten > 120/80 mmHg erwogen werden.

Der Autor

Prof. Dr. med. Burkhard Sievers
Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Angiologie, Hypertensiologe, Lipidologe
Gender-Herz-Zentrum
Praxis Cardiomed24 Meerbusch

info@cardiomed24.de

1 Sievers B, So heilt man heute: Die häufigsten Volkskrankheiten geschlechtsspezifisch besser behandeln. Februar 2023, ZS – Edel Verlagsgruppe GmbH, ISBN:9783965843035
2 Mancia G et al., J Hypertens 2023; DOI 10.1097/HJH.0000000000003480
3 Ji H et al., Circulation 2021; 143: 761–3
4 Chapman N et al., Hypertension 2023; 80: 1140–9
5 Gerdts E et al., Eur Heart J 2022; 43: 4777–88
6 Wright JT et al., N Engl J Med 2015; 373: 2103–16, Erratum in N Engl J Med 2017; 377: 2506
7 Whelton PK et al., Hypertension 2018; 71: 1269–324, Erratum in Hypertension 2018; 71: e136–9, Erratum in Hypertension 2018; 72: e33
8 Connelly PJ et al., Curr Hypertens Rep 2022; 24: 185–92
9 Ji H et al., JAMA Cardiol 2020; 5: 19–26, Erratum in JAMA Cardiol 2020; 5: 364
10 Ravens U, Clin Res Cardiol 2013; DOI 10.1007/s11789-013-0055-0
11 Cifcová R et al., Front Cardiovasc Med 2022; DOI 10.3389/fcvm.2022.960336

Bildnachweis: privat

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