Fatigue beschreibt den Zustand einer anhaltenden, signifikanten Erschöpfung auf körperlicher, kognitiver und emotionaler Ebene, die sich oft in Verbindung mit Krebs und anderen chronischen Erkrankungen manifestiert. Sie ist abzugrenzen vom chronischen Erschöpfungssyndrom (chronisches Fatigue-Syndrom, CFS), das als eigenständige Krankheit auftritt.
Patienten mit chronischen Erkrankungen leiden häufig an einer besonders ausgeprägten Form der Müdigkeit, die unabhängig von vorausgegangener körperlicher oder geistiger Anstrengung auftritt und selbst durch ausreichende Ruhephasen nicht behoben wird. Diese Form der Erschöpfung bezeichnet man als Fatigue. Sie ist eine häufige Begleiterscheinung bei chronischen Krankheiten, so z. B. bei Krebs, M. Parkinson und verschiedenen immunpathologischen Erkrankungen. Zu letzteren zählen insbesondere Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis und Multiple Sklerose sowie chronische Infektionserkrankungen, etwa Virushepatitiden und die virale Kardiomyopathie. Patienten mit solchen Erkrankungen sind oft von Fatigue betroffen, bei Tumorpatienten etwa sind es Studien zufolge 60–90 %.
Fatigue manifestiert sich mit einer Vielzahl von Symptomen auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene, wobei individuell unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen können. Die meisten Betroffenen fühlen sich vor allem körperlich schwach und haben ein hohes Ruhebedürfnis, doch leidet ein Teil der Patienten auch besonders unter psychischer Antriebslosigkeit und einem generellen Gefühl der Überforderung. Mitunter kommen auch Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit hinzu. Die Erschöpfung kann unvermittelt, ohne Vorwarnung auftreten – dann muss der Betroffene die gerade ausgeübte Tätigkeit aufgrund des plötzlichen Energieabfalls unverzüglich unterbrechen –, oder sie kann schleichend einsetzen. Eine deutliche Variabilität zeigt sich auch in Bezug auf das Auftreten und die Dauer der Erschöpfung. Bei Tumorpatienten etwa kann sich Fatigue bereits vor der Diagnose der Krebserkrankung, während der Antitumortherapie oder – als Langzeit- oder Spätfolge – noch Jahre nach der abgeschlossenen Krebsbehandlung (erneut) manifestieren. Bei vielen Betroffenen beschränkt sich die Müdigkeit auf die Dauer der Tumortherapie bzw. die Zeit kurz danach und wird dann als akute Fatigue bezeichnet. Andere Patienten wiederum entwickeln eine chronische Fatigue und haben noch Monate und Jahre nach der Erkrankung bzw. Therapie mit der Erschöpfung zu kämpfen. Die Entstehung von Fatigue ist noch nicht abschließend geklärt. Die Wissenschaft geht von einer multifaktoriellen Genese aus, in deren Rahmen Veränderungen des Blutbildes, Anämie, ernährungsbedingte Einflüsse und psychologische Faktoren eine Rolle spielen. Fatigue kann auch als Nebenwirkung von Medikamenten auftreten, die in der Therapie der Grunderkrankung eingesetzt werden, so etwa im Zuge von Behandlungen mit Zytostatika oder Immuntherapeutika. Als pathophysiologische Grundmechanismen werden Störungen in physiologischen, biochemischen und psychologischen Regulationssystemen angenommen.
Aufgrund der vielschichtigen und unspezifischen Symptomatik von Fatigue wird die Diagnose durch Ausschluss anderer infrage kommender Krankheiten gestellt. Dabei müssen alle drei betroffenen Ebenen – die körperliche, die kognitive und die psychische Ebene – berücksichtigt werden. In einem ersten Schritt werden internistische, neurologische und Blutuntersuchungen durchgeführt. Auf der somatischen Ebene sind Erkrankungen der Leber, der Niere, des Endokrinums und des Knochenmarks ebenso auszuschließen, wie Ursachen, die mit der Grunderkrankung in Verbindung stehen (z. B. Schmerz, iatrogene Symptome, Elektrolytstörungen). Des Weiteren gilt es, mittels Ernährungsanamnese einer etwaigen Fehl- oder Mangelernährung auf den Grund zu gehen. Ein wichtiger Aspekt in der Fatigue-Diagnostik ist die Abgrenzung gegenüber einer Depression, denn viele der bei Fatigue auftretenden Symptome sind auch für Depressionen charakteristisch. Es gilt daher, im Zuge der diagnostischen Abklärung auch die Symptome einer Depression abzufragen. Fatigue als Krankheitssymptom ist zudem abzugrenzen vom chronischen Erschöpfungssyndrom, das nicht als Nebenerscheinung einer chronischen Erkrankung, sondern als eigenständige Krankheit auftritt. Auch das Burn-out-Syndrom als Zustand emotionaler Erschöpfung ist von der Fatigue abzugrenzen. Zur Differenzierung hilfreich sind die S3-Leitlinie „Müdigkeit“ der DEGAM sowie die unter Federführung der DGPPN entstandene S3-Leitlinie „Unipolare Depression – Nationale Versorgungslinie“. In der ICD-Klassifikation ist Fatigue bislang nicht als eigenständiges Syndrom anerkannt. Die ICD-10- und ICD-10-GM-Codierung richtet sich deshalb nach der Grunderkrankung. Wenn diese nicht mehr vorhanden ist, ist der Diagnoseschlüssel Unwohlsein und Ermüdung (R53) anzuwenden, es sei denn, die Diagnosekriterien für CFS (G93.3) sind erfüllt.
Aufgrund der breitgefächerten Symptomatik von Fatigue und der vielfältigen potenziellen Auslöser sollte die Behandlung stets auf die individuelle Situation des Patienten zugeschnitten sein. An erster Stelle im Management der Fatigue steht die Aufklärung des Betroffenen und seiner Angehörigen über die Erkrankung. Im Rahmen der Therapie ist es essenziell, etwaige körperliche Auslöser der Fatigue zu behandeln, so z. B. Anämie, Gewichtsverlust, Bewegungsmangel oder hormonelle Veränderungen. Auch auf bislang unerkannte Begleiterkrankungen, die die körperliche Belastbarkeit einschränken können, wie Störungen der Schilddrüsen-, Herz- oder Lungenfunktion, sollte geachtet werden. Eine wichtige Rolle in der Patientenversorgung spielen aktivierende Maßnahmen. Diese haben zum Ziel, den Teufelskreis aus Müdigkeit, Inaktivität, Dekonditionierung und einer damit verbundenen weiteren Steigerung der Müdigkeit zu durchbrechen. Indiziert ist ein auf die persönliche Situation des Patienten abgestimmtes körperliches Training, das den Patienten jedoch nicht überfordern sollte. In zahlreichen Studien wurde belegt, dass ein solches individuelles Bewegungsprogramm sowohl bei körperlichen als auch psychischen Ursachen von Fatigue hilfreich sein kann. Viele Patienten profitieren darüber hinaus von Entspannungstechniken, die ihnen zu innerer Ruhe und einer schnelleren Erholung verhelfen können. Entsprechende Ansätze sind die „progressive Muskelrelaxation“, autogenes Training, Yoga, Qigong und Meditation. Ob Musik- oder Tanztherapie hilfreich sind, ist noch unklar. Demgegenüber gibt es Hinweise auf den Nutzen psychosozialer Interventionen, die z. B. als psychosoziale Beratung oder psychotherapeutische Begleitung angeboten werden können. Weitere Maßnahmen sollten auf die Überprüfung bzw. Verbesserung der Schlafqualität und die Gewährleistung einer ausgewogenen Ernährung abzielen.
Für die Behandlung der Fatigue selbst gibt es verschiedene medikamentöse Ansätze, allerdings ist deren Nutzen noch unklar. In Studien werden aktuell Psychostimulanzien wie Methylphenidat und Modafinil getestet. Der aufmerksamkeitssteigernde Wirkstoff Methylphenidat findet z. B. in der ADHS-Behandlung Anwendung. Bei Fatigue ist er in Einzelfällen zwar hilfreich, kann aber auch starke Nebenwirkungen wie Nervosität, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Übelkeit verursachen. Für Modafinil, das zur Behandlung der Narkolepsie eingesetzt wird, konnte in Studien bei Patienten mit Fatigue keine Wirksamkeit aufgezeigt werden, sodass der Wirkstoff in dieser Indikation nicht angewendet werden sollte. In einigen Leitlinien werden Methylphenidat und Modafinil als gerechtfertigter Therapieversuch bei sonst nicht beeinflussbarer Müdigkeit bei M. Parkinson, Multipler Sklerose und tumorassoziierter Müdigkeit angeführt. Belastbare evidenzbasierte Grundlagen gibt es dafür bislang allerdings nicht, zudem stellt der Einsatz dieser Substanzen in allen drei Indikationen einen Off-Label-Use dar. Bei Tumorpatienten mit fortgeschrittener Erkrankung kommen mitunter Corticosteroide zum Einsatz. Diesen wird die Fähigkeit zugeschrieben, aufgrund ihrer entzündungshemmenden Wirkung, die Müdigkeit einzudämmen. Ähnlich wie Methylphenidat und Modafinil sollten auch Corticosteroide nur dann eingesetzt werden, wenn sich die Fatigue durch andere Verfahren nicht lindern lässt. Aktuell gibt es für kein Medikament eine Zulassung zur Behandlung der krankheitsassoziierten Fatigue. Auch für frei verkäufliche Mittel wie Coffeintabletten oder Vitaminpräparate bzw. Mineralstoffe konnte ein echter Nutzen bei Fatigue bislang nicht belegt werden.
Die Bedeutung von Fatigue für die Betroffenen wird in der täglichen Versorgungspraxis häufig unterschätzt. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Patienten ihre Erschöpfung und Kraftlosigkeit oft selbst nicht verstehen und damit auch für ihr Umfeld nur schwer begreifbar machen können. Dabei hat Fatigue einen erheblichen negativen Einfluss auf die Lebensqualität und Alltagsfunktionalität der Betroffenen. Bei Tumorpatienten etwa zählt sie zu den häufigsten Krankheitssymptomen überhaupt und viele erleben Fatigue als die größte Belastung neben der Grunderkrankung selbst. Manche Patienten sind durch Fatigue in ihrer Leistungsfähigkeit so eingeschränkt, dass sie ihre Aufgaben im Alltag oder im Beruf nur noch bedingt oder gar nicht mehr erfüllen können. Es liegt an den Versorgern, die Patienten über Fatigue aufzuklären und sie – der individuellen Situation entsprechend – an Hilfsangebote zur aktivierenden und/oder psychosozialen Unterstützung zu verweisen. Oft ist es für die Betroffenen nützlich, wenn sie ein Energietagebuch führen, in dem sie ihre täglichen Aktivitäten festhalten. Dieses kann helfen, die Balance zwischen Über- und Unterforderung herzustellen und das Aktivitätsniveau schrittweise zu steigern. Wichtig ist es des Weiteren, die Angehörigen in das Aufklärungsgespräch mit einzubinden, denn nur wer die Situation der Betroffenen kennt, kann sich darauf einstellen und zur Entlastung beitragen. Fatigue-Mitbetroffene sollten daher ermutigt werden, sich über die Grunderkrankung ihres Angehörigen und Fatigue als deren Begleitsymptom zu informieren. Das baut Ängste ab und hilft, den richtigen Umgang mit der Situation zu finden. Dazu gehören ganz wesentlich auch offene Gespräche mit dem Betroffenen über seine Bedürfnisse und Möglichkeiten zur echten Entlastung im Alltag. Reicht die Kraft trotz aller angeführten Maßnahmen nicht aus, um den Alltag zu bewältigen, können Hilfsmittel, die von den Krankenkassen ganz oder teilweise finanziert werden, wie Badewannenlift, Duschhocker oder Rollator, oder auch ein ambulanter Pflegedienst in Anspruch genommen werden. Mitunter kann es sinnvoll sein, eine Berentung in Erwägung zu ziehen.
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