Neonatologie und perinatale Medizin sind eine Erfolgsgeschichte – getragen von der Einführung der Intensivmedizin sowie organisierter und strukturierter Betreuung der Schwangeren und Mütter. Doch jetzt stehen neue Herausforderungen vor der Tür.
Die Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) hatte anlässlich ihres 31. Kongresses in Berlin zu einem Pressegespräch Ende November 2023 eingeladen. Thema: Wie geht es in der Perinatalmedizin weiter? Prof. Dr. med. Mario Rüdiger von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Uniklinikums Dresden, diesjähriger Kongresspräsident, führte ins Thema ein [1].
„Wir können nicht überall alles machen, brauchen aber auch Expertise in den einzelnen Regionen.“
Er sieht sein Fachgebiet aktuell im Bann einer ganzen Palette drängender Probleme: „Wir stehen im Moment bei der medizinischen Versorgung von Schwangeren, Müttern, Feten und Neugeborenen vor mehreren Herausforderungen.“ So sollten trotz des Fachkräftemangels und zurückgehender Entbindungszahlen Geburt und Versorgung von Kindern und Schwangeren „in der Fläche“ und vor allem heimatnah auch mit weniger Fachpersonal weiterhin qualitativ gesichert werden. Dazu gehören vornehmlich die Spezialversorgung durch pränatale Operationen und die langfristige Versorgung zu früh oder krank geborener Kinder und ihrer Familien.
Ethische Fragen
Auch neue ethische Fragen sind nach seiner Ansicht aufgetreten, insbesondere infolge des Fortschritts der Pränataldiagnostik: Ursprünglich war diese Disziplin zur Ausführung vorgeburtlicher Diagnostik mit einer Behandlungsoption nach der Geburt angetreten. Inzwischen aber würden umfangreich auch Krankheitsbilder festgestellt, für die es keine Behandlung gibt (z. B. Down-Syndrom). Die faktische Freigabe des Screenings aus mütterlichem Blut auf fetale genetische Chromosomenstörungen vor einem Jahr habe zu einer höheren Rate von möglicherweise falschen Ergebnissen und damit Verunsicherung der Schwangeren geführt. „Dadurch werden die betroffenen Eltern ebenso wie die behandelnden Kollegen mit neuen Konflikten konfrontiert“, wie Rüdiger betonte.
Für besonders wichtig hält er es, Strukturen neu zu denken und dann auch umzusetzen. Und dabei das kranke Kind im Mutterleib mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Perinatal- und Pränatalmedizin sowie ihrer Qualitätsindikatoren gelte es, auch ethische Herausforderungen zu diskutieren, die an die Entwicklungsgrenzen der Medizin reichen.
Dazu zählen etwa die Bemühungen um den „extrakorporalen Uterus“. Rüdiger, Gründungsdirektor des deutschlandweit ersten Zentrums für feto/neonatale Gesundheit, wagte einen Blick in die Zukunft: „Für uns stellt sich die Frage: Kann ein Ungeborenes außerhalb der Mutter aufwachsen? Kann man einen Uterus transplantieren?“
Ökonomische Fragen
Hinsichtlich der anstehenden Krankenhausreform könnte die Perinatalmedizin mit ihrer seit Jahrzehnten etablierten abgestuften Versorgung sogar als Modell für die möglicherweise neu entstehende Krankenhauslandschaft dienen. Qualität sichtbar zu machen, ist in der Perinatologie längst gelebte Realität – etwa mit einem Informationsportal für alle, die sich über die Versorgungsqualität von sehr kleinen Frühgeborenen informieren möchten (https://perinatalzentren.org).
Rüdigers innovative feto/neonatale Zentrums-Initiative arbeitet als überörtlicher und krankenhausübergreifender Versorgungsverbund regionaler Partner. Ziel ist es, eine flächendeckende Versorgung der Schwangeren, der Betreuung während der Geburt und des Neugeborenen auf hohem Niveau sicherzustellen. „Es ist die große Herausforderung der Zukunft, zu erkennen, dass wir nicht überall alles machen können, aber auch Expertise in den einzelnen Regionen brauchen.“
Prof. Dr. med. Ekkehard Schleußner (Jena), Präsident der DGPM, unterstrich angesichts der aktuellen Entwicklungen die Notwendigkeit schneller Entscheidungen: „Wir haben einen Problemstau, der politisch strukturell angegangen werden muss. Sonst wird dieser sich disruptiv lösen mit gesamtgesellschaftlich viel höheren Kosten.“ Schleußner verwies auf die zunehmende Bedeutung der präventiven Medizin. Als Beispiel erwähnte er die Zulassung eines Impfstoffes gegen das respiratorische Synzitial-Virus (RSV), der einen „Nestschutz“ vor der teils lebensbedrohlichen Atemwegserkrankung ermögliche.
Aktuelle Streitpunkte
Zu den aktuellen Streitpunkten zählt die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) genehmigte Mindestmengenregelung für Frühgeborene, die ab 1. Januar 2024 gilt. Dazu hat die DGPM am 16. November 2023 eine „Stellungnahme“ veröffentlicht, die von mehreren Fachgesellschaften unterstützt wird [2]. Unter Verweis auf Schweden wird die angestrebte Beschränkung auf weniger Zentren als Chance angesehen, „die Sicherstellung einer adäquaten Versorgung von Schwangeren und Neugeborenen zukunftssicher zu gestalten“.
„Die Sterblichkeit wird maßgeblich durch das Versterben extrem unreifer Frühgeborener bestimmt.“
Ab 2024 müssen Kinderkliniken jährlich mindestens 25 Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1 250 g behandeln, um „diese besonders vulnerable Gruppe versorgen zu dürfen“. Die Regelung ist in einigen Bundesländern „auf erheblichen Widerstand“ und sogar Bereitschaft zur Verfassungsklage gestoßen. Dagegen erklärt die DGPM: „Die Mindestmenge von 25 ist niedrig und als politischer Kompromiss anzusehen.“
1 Pressegespräch am 30. November 2023 anlässlich des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) vom 30. November bis 2. Dezember 2023 in Berlin
2 Zu den Unterstützern gehören: Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin e. V. (GNPI), Deutsche Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie e. V. (DGGG), Arbeitsgemeinschaft Geburtshilfe und Gynäkologie e. V. (AGG), Deutsche Stiftung Kranke Neugeborene (DSKN), Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e. V.