Frauenärzte sind die einzige Fachgruppe, die von Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 50 regelmäßig besucht wird. Entsprechend sind wir auch die einzigen, die zu Fragen der Gesundheit Stellung beziehen können. Das sollten wir auch abseits von Kontrazeption, Schwangerenvorsorge und Hormonsprechstunde tun.
Etwa 65–70 % der Leistungen in den deutschen Frauenarztpraxen sind Präventionsleistungen.[1] In der Hauptsache sind das Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, die Schwangerenvorsorge sowie die Beratung und Untersuchung zur Kontrazeption. Aber auch in allen anderen Fragen der gesunden Lebensführung nehmen Frauen gerne Ratschläge an – wenn sie denn in ihr Weltbild passen. Die vielleicht wichtigste Frage ist die Frage der Ernährung.
Psychogene Essstörungen
Als normalgewichtig gelten unsere Patientinnen mit einem BMI von 18,5–25. Hand aufs Herz: Wissen Sie, wie hoch der Anteil normalgewichtiger Patientinnen in Ihrer Praxis ist? Vielleicht nicht. Wir alle aber kennen die Ausreißer, die klapperdürren Teenager und die adipösen Mittvierzigerinnen. Sie gehören zu der Gruppe von Frauen, denen unsere besondere Aufmerksamkeit gelten sollte. Denn viele dieser Patientinnen leiden an psychogenen Essstörungen.
Psychogene Essstörungen sind teils durch Nahrungsverweigerung, teils aber auch durch eine übermäßige Nahrungsaufnahme mit gekennzeichnet. Anorexie, Bulimie und Binge-Eating-Störung haben eine große klinische, gesundheitsökonomische und gesellschaftliche Relevanz.[2]
An Anorexia und Bulimia nervosa erkranken fast ausschließlich Mädchen und junge Frauen – die
oft außer der Gynäkologin oder dem Gynäkologen keinen Arzt sehen. Durch den Erkrankungsgipfel in der Adoleszenz bzw. im jungen Erwachsenenalter haben diese Erkrankungen schwerwiegende Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit, auf den persönlichen Werdegang und nicht zuletzt auf die eigene Fruchtbarkeit.
Anorexia nervosa ist eine psychiatrische Erkrankung, bei der eine massive Störung des Essverhaltens mit streng kontrollierter Nahrungszufuhr
und eine daraus resultierende, extreme Gewichtsabnahme einhergeht. Gleichzeitig findet sich eine Störung der Körperwahrnehmung mit einer kognitiven Einengung auf Essen, Figur und Gewicht („Magersucht“). Häufig geht die Erkrankung mit einer Reihe weiterer, komorbider psychischer Störungen einher. Bei einem Verlauf über viele Jahre kann die Anorexie zu einem Teil der Identität werden, der nur noch schwer aufzugeben ist. Durch die Fehl- und Mangelernährung kommt es letztlich zu einer Beeinträchtigung sämtlicher Organfunktionen inklusive der hormonellen Regulationssysteme, sodass die Wahrscheinlichkeit gynäkologischer Auffälligkeiten hoch ist.
Die Bulimia nervosa ist durch wiederholte Anfälle von Heißhunger (Essattacken), Kontrollverluste bei der Nahrungsaufnahme und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert. Dies veranlasst die Patientinnen zu Maßnahmen, die einer Gewichtszunahme entgegenwirken sollen. Das selbst herbeigeführte Erbrechen (Purging) begründet die deutsche Bezeichnung „Ess-Brech-Sucht“. Im Gegensatz zu Magersüchtigen sind an Bulimie Erkrankte meist normalgewichtig.
Patientinnen mit psychogenen Essstörungen sollten eine Therapie auf der Grundlage eines multimodalen und integrativen Behandlungskonzepts durchlaufen. Sie sollten frühzeitig Hilfe erfahren, nicht erst, wenn bereits Folgeschäden oder Komplikationen aufgetreten sind. Initial geht es dabei zunächst um den Aufbau einer hinreichenden Therapiemotivation, und hier kann die Frauenarztpraxis über die negativen körperlichen Folgen wie auch den Circulus vitiosus aus Hungerzustand, Essanfällen und inadäquaten kompensatorischen Verhaltensweisen aufklären. Danach ist eine psychotherapeutische Betreuung unerlässlich.[2]
Prävention von Adipositas
Auf der anderen Seite der BMI-Skala steht die Adipositas. Die Prävention des Übergewichtes und der Fettleibigkeit ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Die WHO ist in der Zwischenzeit davon überzeugt, dass Adipositas die größte Bedrohung für die Weltbevölkerung sei. In Mexiko haben 60 % der Kinder vor dem zwölften Lebensjahr Adipositas, die Hälfte davon schon mit einem metabolischen Syndrom. Typ-2-Diabetiker im Kindes- oder Jugendalter sind dort längst keine Seltenheit mehr und auch bei uns sind die Zahlen alarmierend. Als Frauenärzte beschäftigen wir uns über die Stoffwechsel-relevanten Aspekte hinaus auch mit der verminderten Konzeptionsfähigkeit der übergewichtigen Frau. Und die reichhaltige, energiedichte und hoch insulinotrope Nahrungsmittelauswahl der heutigen Supermärkte („ultra-processed food“) kann einer Studie zufolge auch das Krebsrisiko erhöhen, bei Frauen insbesondere das Risiko für Brustkrebs.[3]
Wichtigster Aspekt bei der Adipositas-Prävention ist die richtige Ernährung, und durch kompetenten Rat sollten wir dazu beitragen, dieses Patientinnen-individuelle Problem zu lösen. Aber wie, wenn es religionsähnliche Diskussionen um den richtigen Weg gibt. Dr. Thomas Platzer beschrieb das Problem[4]: „Um jedoch den Patienten sinnvoll den Weg zu leiten, muss man sich insbesondere an tatsächlichen Positionen orientieren. Irreführend wird von der DGE noch ein KH-Anteil der Ernährung von über 50 % empfohlen.“[5] Kohlenhydratmast kennt der Gourmet von der Gänsestopfleber (fois gras), eine bekannte Form der NAFLD. Für das Suchwort „Insulinotropie“ kann auf der DGE-Website in der Suchwortleiste dagegen kein (!) Ergebnis gefunden werden, obwohl Insulin ein zentraler Bestandteil der gemeinsamen Regulation des Fett- und Kohlenhydratstoffwechsels ist (Abb.).
Individuelle Ernährungsberatung ist aufwendig und in der Praxis eher als IGeL realisierbar. Ein paar Grundaspekte versteht aber jede Patientin. Etwa, dass das teuerste Ei als tierische Proteinquelle vom Bio-Bauernhof am Stadtrand besser ist, als das billigste Steak vom Discounter. Und dass Einkaufen und kochen mühsam ist, unter dem Strich aber förderlich für die Gesundheit. Vor allem Schwangere und junge Mütter sind sehr offen für Beratung, ihnen sollte man auch die entsprechenden Websites und Apps empfehlen (siehe Kasten).
Spezielle Ernährungsformen
Wie viele Menschen in Deutschland sich inzwischen vegetarisch ernähren, ist strittig. Man geht von etwa 10 % aus, Tendenz steigend. Je nachdem, welches Essverhalten an den Tag gelegt wird, werden deshalb verschiedene Vegetarier-Ausprägungen unterschieden.[6]
Ovo-Lacto-Vegetarier essen weder Fleisch- noch Fischprodukte, jedoch Eier und Milchprodukte.
Lacto-Vegetarier verzichten sowohl auf Fleisch als auch auf Fisch und Eier. Als tierische Lebensmittel werden lediglich Milchprodukte akzeptiert.
Ovo-Vegetarier essen Eier, aber kein Fleisch, keinen Fisch und keine Milchprodukte.
Veganer dagegen verzichten auf alle Lebensmittel tierischen Ursprungs – also auch auf sämtliche Milchprodukte, Eier und auch auf Honig.
Daneben gibt es unterschiedliche Ausprägungen bei der Einhaltung dieser Richtlinien (Wochenende-Vegetarier, Pudding-Vegetarier …). Die Motive für eine vegetarische Ernährung sind unterschiedlich, die Bandbreite reicht von der Abneigung gegen den Fleischgeschmack über die Umweltverträglichkeit und ethischen Bedenken (Tierschutz) bis zur religiösen und kulturellen Einstellung. Vegetarier finden sich überdurchschnittlich häufig in der gehobenen Bildungsschicht.
Dass eine abwechslungsreiche, vegetarische Kost eine gute Versorgung mit allen Nährstoffen sichern kann, ist durch zahlreiche Studien belegt. Der ovo-lacto-vegetarische Speiseplan ist sehr nahe an der aktuellen ernährungswissenschaftlichen Empfehlung für eine vollwertige Mischkost. Diese erlaubt ohnehin nur 600 g Fleisch und Wurst pro Woche, dazu noch zwei Portionen Fisch. Die wichtigen Nährstoffe, die den Vegetariern durch den Verzicht auf Fleisch und Fisch entgehen, können ohne Weiteres durch andere Lebensmittel ersetzt werden: Eier, Käse und Hülsenfrüchte liefern Protein, grünes Blattgemüse enthält reichlich Eisen. Und auch in Milchprodukten steckt genügend Vitamin B12.
Die strickt vegane Ernährung ist im Gegensatz dazu nicht unumstritten. Fakt ist, dass vegane Ernährung viel Wissen über die sorgfältige Zusammenstellung der Nahrungsmittel erfordert, um den Körper mit allen wichtigen Nährstoffen zu versorgen. Vor und während einer Schwangerschaft sowie in der Stillzeit sind eine Reihe von Mikronährstoffen obligatorisch zu substituieren, um die Entwicklung des Fetus nicht zu gefährden.
Bewegung
Der kongeniale Partner einer gesunden Ernährung ist ausreichende Bewegung. Nicht weniger essen bringt auf Dauer einen Gewichtsverlust, sondern mehr trainieren. Um einer Gewichtszunahme und der Entstehung von Übergewicht effektiv vorzubeugen, muss man sich 150–300 Minuten, also 2,5–5 Stunden pro Woche aktiv bewegen. Dies entspricht einem zusätzlichen Energieumsatz von etwa 1.200–2.000 kcal. Normalgewichtige Patientinnen können mit 2,5 Stunden Bewegung pro Woche eine Gewichtszunahme verhindern und ihr Risiko für chronische Erkrankungen senken. Übergewichtige Patientinnen können bei dieser Bewegungsintensität bereits einige Pfunde verlieren.[7]
Sollen aber viele Kilos abgespeckt werden, müssen 4–5 Stunden wöchentlich in Sport investiert werden. Wer gleichzeitig eine Diät durchführt, kann den Gewichtsverlust durch 150–250 Minuten Sport pro Woche wirksam unterstützen. Dies gilt allerdings nur, wenn es sich um eine moderate Diät handelt. Bei strengen Diäten, bei denen die Energiezufuhr nicht den Grundumsatz deckt, hat zusätzliche Bewegung keinen unterstützenden Effekt auf die Gewichtsabnahme.
Unklarheit herrscht noch darüber, welchen Beitrag die tagtägliche Bewegung im Alltag leistet, etwa Treppensteigen, Hausarbeiten oder Einkäufe zu Fuß und mit dem Fahrrad. Diese Alltagsbewegungen werden in verschiedenen Studien unterschiedlich definiert, wodurch die Ergebnisse nicht immer vergleichbar sind. Allgemein gehen die Forscher aber davon aus, dass Alltagsbewegungen kleinere Ungleichgewichte in der Energiebilanz auffangen. Da ein Großteil des Übergewichts bei Erwachsenen vermutlich auf einen täglichen Energieüberschuss von nur relativ wenigen Kilokalorien zurückzuführen ist, lohnt es sich durchaus, im Alltag aktiv zu bleiben.
Welche Sportart sollten Sie Ihren Patientinnen empfehlen? Während Ausdauersportarten ideal zum Verbrennen von Kalorien sind, wirkt sich Kraftsport nur indirekt auf das Körpergewicht aus. Durch regelmäßiges Krafttraining kann der Anteil an Körperfett abnehmen und der Anteil an magerer Körpermasse zunehmen. Da mit einer höheren Magermasse auch der Grundumsatz steigt, kann sich das positiv auf das Gewicht auswirken. Außerdem verbessern sich die Werte einiger wichtiger Risikofaktoren für Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Cholesterinspiegel, die Insulinsensitivität und der Blutdruck. Ideal ist daher eine Kombination aus mindestens 2,5 Stunden Ausdauersport und zweimal Krafttraining pro Woche.
Der Autor
Dr. rer nat. Reinhard Merz
Die Autorin
Prof. Dr. Ingrid Gerhard
Albert-Überle-Str. 11, 69120 Heidelberg
www.netzwerk-frauengesundheit.com
Autorin des Buchs Frauengesundheit, Tria Verlag, 24,99 Euro, ISBN 978-3432105932
[1] Albring C, Gynäkologe 2016; 49: 649–653
[2] Karte A et al., CME 2020; 17: 51–63
[3] Fiolet T et al., BJM 2018; 360: k322
[4] Platzer TM, DER PRIVATARZT GYNÄKOLOGIE 2018; 9 (3): 8–11
[5] dge.de
[6] Hendel B, Im Internet: www.netzwerk-frauengesundheit.com/uebergewicht-abbauen-bei-vegetarischer-und-veganer-ernaehrung
[7] Gerhard I, Im Internet: https://www.netzwerk-frauengesundheit.com/bewegung-ins-gewicht-bringen
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