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Gynäkologie

Operative Therapie

Harninkontinenz und Deszensus

Prof. Dr. med. Gert Naumann

6.12.2024

Im Hinblick auf eine Beckenbodenschädigung nach erster Entbindung stellt sich die Frage nach einer adäquaten Behandlung möglicher Probleme auch in Bezug auf mögliche nachfolgende Schwangerschaften. Der frühere Grundsatz „Operation erst bei abgeschlossener Familienplanung“ kann heute nicht mehr gelten.

Tiefgreifende Veränderungen der allgemeinen ­Lebensumstände und beruflichen Karriere führen zu einer immer späteren Finalisierung der Familienplanung für junge Frauen. Waren junge Frauen im Jahr 1989 im Durchschnitt bei der ersten Entbindung 22,9 Jahre, stieg das Alter im Jahr 2023 auf 30,3 Jahre (Statistisches Bundesamt). Dementsprechend gebären Frauen auch später ihr letztes Kind, ein Alter über 40 Jahre ist inzwischen keine Seltenheit mehr. Häufig liegen mehr als 10 Jahre Abstand zwischen erstem und letztem Kind.

Eine aktuelle große Übersichtsarbeit aus 2023 mit ­Erfassung von Daten aus 3 nationalen schwedischen Registern mit über 2 300 000 Frauen zeigt eindeutig, das notwendige Beckenbodenoperationen fast ausschließlich nach vaginaler Entbindung (Deszensus-OP 98 %, Harninkontinenz-OP 93 %) erfolgen (Abb. 1). Frauen nach Sectio caesarea bewegen sich auf dem Niveau der Nulliparae. Es gibt keine Evidenz, dass Schwangerschaften an sich das Risiko für ­Prolaps oder Inkontinenzchirurgie erhöhen. Die ­erste Entbindung zeigt das höchste Risiko für einen Beckenboden­schaden (6-fach für Prolaps-OP und 3-fach für ­Inkontinenz-Chirurgie). Bedenkt man die hohe Prävalenz einer Beckenbodenschädigung von bis zu 30 % nach erster Entbindung und die mögliche lange Phase einer ­Finalisierung des Kinderwunsches, stellt sich die ­Frage nach einer adäquaten Behandlung möglicher Probleme auch im Blick auf mögliche nachfolgende Schwangerschaften und Entbindungen (Abb. 2).

Mögliche konservative Therapieoptionen

Jüngere Frauen mit Deszensussymptomen und nicht abgeschlossener Familienplanung sollten möglichst konservativ therapiert werden. Eine professionelle Beckenbodentherapie durch spezialisierte Physiotherapeutinnen (siehe auch ­Therapeutenliste nach PLZ über www.ag-ggup.de) sollte immer Start der Therapie sein und von der Patientin dann lebenslang fortgesetzt werden.

Die Möglichkeiten der modernen Pessartherapie mit Selbsteinlage und simultaner lokaler Estrogenisierung bringen zumeist zufriedenstellende Besserung und eine ausreichende Zeitgewinnung bis zu einer erneuten Schwangerschaft und/oder einem definitiven Abschluss der Familienplanung. In einer eigenen Untersuchung konnten wir bei Vergleich einer Rückbildungsgymnastik, einer ­physiotherapeutischen Behandlung und der Einlage eines Würfel­pessars bei postpartaler Harninkontinenz einen deutlichen Benefit einer Pessarbehandlung aufzeigen. Die in diesem Heft vor­liegende Arbeit von Prof. Dr. med. Miriam Deniz (S. 14–15) zeigt den hohen Nutzen einer postpartalen Pessaranwendung.

Mögliche operative Therapieoptionen

Über viele Jahre galt der Grundsatz: „Eine Operation erfolgt erst bei abgeschlossener Familienplanung.“ Dies kann so nicht mehr übernommen werden. ­Folgendes Vorgehen sollte daher pragmatisch umgesetzt werden:

  • weitere Familienplanung eruieren
  • bei abgeschlossener Familienplanung ist eine OP-Planung gut möglich
  • ist die Familienplanung nicht abgeschlossen, aber die Verwirklichung zeitnah absehbar, dann eher abwarten und nach Abschluss OP

Schwierig ist es, wenn die Familienplanung nicht ­abgeschlossen, Verwirklichung eines weiteren Kinder­wunsches aber auch nicht absehbar ist. In diesem Fall sollte bei massiven Beschwerden eher eine Indikation zur OP gestellt werden, bei geringeren Beschwerden die konservative Therapie weitergeführt werden. Folgende Grundsätze sollten dabei vor operativer Planung Berücksichtigung finden:

  • immer konservativer Start, früh beginnen
  • kein Aktionismus
  • Effekt des relativen Estrogenmangels durch Stillen beachten
  • günstiger Zeitpunkt: 6–12 Monate nach Geburt abwarten bis OP
  • Ausmaß des operativen Eingriffes begrenzen
  • mit konservativen Maßnahmen kombinieren

Operative Therapie der Belastungsinkontinenz

Bei Ausschöpfung der konservativen Maßnahmen sollte in Abhängigkeit des Schweregrades der Inkontinenz und der anatomischen Voraussetzungen ein Stufenplan erstellt und das Ausmaß der Operation mit der Patientin sorgfältig besprochen werden.

Lasertherapie intravaginal

Es existieren inzwischen zahlreiche Studien mit dem Nachweis eines positiven Nutzens der Lasertherapie bei einer leicht- bis mittelgradigen Belastungsinkontinenz. Bei geringem Risiko und fehlender struktureller Veränderung der muskulären und bindegewebigen Beckenbodenstrukturen könnte dies eine gute Variante bei nicht abgeschlossener Familienplanung darstellen. Klare Angaben zu einer Heilungsrate der Inkontinenz fehlen bislang.

Intraurethrale Injektion mit Bulking Agents

Die intraurethrale Unterspritzung mit okkludierenden Substanzen, aktuell mittels Bulkamid, stellt ebenfalls eine gute und minimalinvasive Methode mit ausreichender Datenlage zur Evidenz dar, die suburethralen Depots sollten eine spätere Entbindung wenig tangieren. Bei möglichem Rezidiv besteht die Möglichkeit einer späteren Reinjektion oder einer suburethralen Bandeinlage. Heilungsrate hier 65–75 %

Suburethrale Vaginalschlinge

Der Goldstandard der operativen Therapie bei Belastungsinkontinenz mit Einlage einer spannungsfreien Schlinge bei Urethrahypermobilität oder Trichterbildung führt auch hier zu hohen Erfolgsraten. Ein deutlicher Lateraldefekt sollte ausgeschlossen werden. Aktuelle Studien zeigen ein Risiko von 16–18 % eines Rezidivs der Inkontinenz nach erneuter Geburt. Es gibt keine Daten, ob die retropubische oder transobturatorische Bandeinlage einen Einfluss auf das Ergebnis nach einer erneuten Entbindung hat. Ebenso scheint der Entbindungsmodus nach Bandeinlage von untergeordneter Bedeutung.

Kolposuspension

Die Kolposuspension ist ein geeignetes OP-Verfahren bei deutlichem Lateraldefekt im Bereich der ­vorderen Scheidenwand. Wir verwenden heute die laparoskopische bzw. robotisch assistierte Technik mit transperitonealem oder extraperitonealem Zugang.

Die bilaterale Scheidenfixierung an den Cooper Ligamenten wird durch nachfolgende Geburt wenig traumatisiert, die Verwendung von alloplastischem Netzmaterial entfällt hier.

Über alle Altersstufen hinweg hat sich die Versorgung der Patientinnen in den vergangenen 15 Jahren verschlechtert. Die Zahl chirurgischer Eingriffe zur Behandlung der Stressharninkontinenz ging nach der FDA-Warnung 2013 deutlich zurück und sackte im Zuge der Pandemie noch weiter ab (Abb. 3).

Operative Therapie des Genitalprolaps

Ein Genitalprolaps ist prinzipiell sowohl von vaginal als auch abdominal therapierbar. Bei häufig vorliegenden Level-I-Defekten mit Uterusdeszensus wird ein laparoskopisches Verfahren mit Hysteropexie gewählt, die dorsale Fixierung des Netzes am Uterus scheint weniger Schmerzen bei Uteruswachstum in der nächsten Schwangerschaft zu verursachen. Für die neuen Techniken mit einer unilateralen oder ­bilateralen Fixierung an der Beckenwand liegen ­bislang keine Daten vor.

In der Literatur finden sich inzwischen kleinere operative Studien mit nachfolgender Schwangerschaft und zumeist vaginaler oder vereinzelt elektiver Schnittentbindung nach abdominaler Hysteropexie. Auch der Autor verfügt über eigene Fälle von Schwangerschaften nach abdominaler Hysterosakropexie mit nachfolgender Entbindung durch ­primäre Sectio caesarea.

Häufig bestehende Defekte im hinteren Vaginalkompartiment zeigen Rektozelen und narbige Dammverhältnisse. Notwendig ist dann eine Kombination einer Rektozelenversenkung mit Dammrekonstruktion bei narbigem Damm, sekundärer Episiotomie, häutiger Brücke etc. Wichtig ist hier eine sorgfältige Faszienrekonstruktion, die klassische Levator-Dammplastik oder alloplastische Netzeinlagen sollten auf keinen Fall erfolgen. Ebenso finden sich Fälle mit notwendiger Spaltung häutiger Anteile, Aufbau des Perineums oder Introitus-Erweiterung bei iatrogener Verengung.

FAZIT:

Mögliche Kandidatinnen für urogynäkologische Operationen werden immer jünger. Ein individueller Plan konservativer und operativer Maßnahmen muss dabei in jedem Fall das Ziel sein. Durch ausführliche und ausgewogene Aufklärung der Patientin ist hier in der Regel immer eine gemeinsame Entscheidungsfindung möglich. Es existieren vielseitige Möglichkeiten zur Therapie bei Deszensus und Harninkontinenz, operative Maßnahmen sind dabei auch bei noch bestehendem Kinderwunsch immer zu prüfen. Die aktuelle Datenlage erlaubt keine Befürwortung der elektiven Sectio bei erneuter Entbindung nach urogynäkologischen Operationen.

Die Urogynäkologie hat sich über die vergangenen Dekaden konsequent weiterentwickelt und stellt neben der gynäkologischen Onkologie, der Geburts­medizin sowie der Endokrinologie und Reproduktionsmedizin eine wichtige Säule im Fachgebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe dar. Die nachhaltige Verbesserung des Krankheits­verständnisses urogynäkologischer Beschwerdebilder erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl die Grundlagenforschung als auch die klinische Routine und Praxis integriert. Ein zen­traler Aspekt ist die Förderung der interdisziplinären Forschung, die sich auf die komplexen Wechselwirkungen zwischen anatomischen, funktionellen und psychosozialen Faktoren bei ­Beckenbodenerkrankungen konzentriert.

Dies könnte durch gezielte Forschungsprojekte geschehen, die sich beispielsweise mit der Effektivität und Langzeitwirkung von Beckenbodentraining, ­Physiotherapie, Pessarnutzung und Verhaltensinterventionen befassen. Die Integration neuer Technologien – wie Biofeedback-gestützter Therapien oder tragbarer Geräte zur durchgehenden Überwachung der Beckenbodenmuskulatur – könnte hierbei eine entscheidende Rolle spielen.

Die Einbindung der Urogynäkologie in einen interdisziplinären und interprofessionellen Kontext mit angrenzenden Bereichen ist entscheidend, um Synergien zwischen verschiedenen medizinischen Disziplinen und Professionen zu schaffen und eine umfassende Patientinnenversorgung zu gewährleisten. Ein integratives Modell ist zweifelsohne die Etablierung von Beckenbodenzentren, in denen urogynäkologisch, urologisch, gynäkologisch, koloproktologisch, physiotherapeutisch tätige Personen und spezialisierte Pflegekräfte gemeinsam arbeiten. Die Einbindung eines Schmerztherapeuten oder einer Psychologin kann ebenfalls sinnvoll sein, insbesondere bei Patientinnen mit chronischen Schmerzen oder psychosomatischen Beschwerden, die oft mit Beckenbodendysfunktionen einhergehen.

Ein klares Zeichen für die steigende Bedeutung der Urogynäkologie ist auch die Tatsache, dass Kandidatinnen für urogynäkologische Operationen immer jünger werden. Waren Harninkontinenz und Deszensus früher nur bei Frauen jenseits der Menopause ein Thema, behandeln wir heute viele Patientinnen schon während der Schwangerschaft oder nach der ersten Entbindung. Es existieren auch bei Kinderwunsch vielseitige Möglichkeiten zur Therapie bei Deszensus und Harninkontinenz.

Basierend auf: Hübner M, Naumann G, Spitzenreferat Urologie. DGGG-Kongress Journal 2/2024.

Der Autor

PD Dr. med. Gert Naumann
Helios Klinikum Erfurt, Medical School Hamburg Campus Schwerin

gert.naumann@helios-gesundheit.de

Bildnachweis: Christopher (Adobe Stock), cherstva (gettyimages), privat

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