Ende September 2024 fand in Freiburg das erste „Symposium interprofessionelle Beckenbodenprotektion“ statt. Auf der Veranstaltung wurde das Ziel formuliert, Beckenbodenprotektion als festen Bestandteil der geburtshilflichen Versorgung zu etablieren, um die Lebensqualität betroffener Frauen nachhaltig zu verbessern.
Es ist hinreichend bekannt, dass die vaginale Geburt den Hauptrisikofaktor für die Entstehung einer therapiepflichtigen urogynäkologischen Erkrankung darstellt [1]. Zwar sind zunehmendes Alter und Übergewicht ebenfalls wichtige Faktoren, die Harn-, Stuhlinkontinenz und den Deszensus des Genitale begünstigen [2,3], allerdings ist es mit dem Wissen und dem Stellenwert der Geburt in der Pathophysiologie urogynäkologischer Erkrankungen durchaus sinnvoll, dass alle Professionen, die Frauen vor, während und nach der Geburt versorgen, zusammenkommen, um die folgenden Aspekte zu beleuchten (Abb. 1):
Viele Teilnehmer, viele Aspekte
In diesem Geiste kamen in Freiburg mehr als 150 Interessierte aus unterschiedlichen Berufsgruppen (Physiotherapie, Gynäkologie und Urogynäkologie sowie Hebammen, Pflegepersonal, Geburtshelfer und -helferinnen) zusammen, die die Offenheit und das Interesse an anderen Disziplinen und Professionen verband.
Bereits am Vortag des Kongresses gab es 5 Workshops zu den folgenden Themen: 3D-Sonografie, höhergradige Geburtsverletzungen, Nahtkurs für Hebammen, Physiotherapie und Pessare. Während dieser Workshops konnten die Teilnehmenden dank herausragender Dozentinnen und Dozenten praktisch ihre Fertigkeiten vertiefen und wichtige beckenbodenprotektive Aspekte kennenlernen.
Postpartale Inkontinenz ist nach wie vor ein Thema, über das wenig gesprochen wird.
Das Symposium startete dann am Folgetag mit einem Überblick über die Prävalenzen der häufigsten Erkrankungen des Beckenbodens, der Harn-, der Stuhlinkontinenz und des Descensus genitalis. Nygaard et al. beziffern die Prävalenz, im Laufe des Lebens eine oder mehrere dieser Probleme zu bekommen, auf knapp 23,7 % [3].
Durch den demografischen Wandel, den unsere Gesellschaft erfährt, werden diese Erkrankungen häufiger werden, sodass allen, die sich mit der Versorgung von Frauen mit Beckenbodenproblemen beschäftigen, bewusst sein sollte, sich auf wachsende Ströme von Patientinnen vorzubereiten. Die Urogynäkologie wird so in Zukunft schon aufgrund unserer gesellschaftlichen Entwicklung mehr und mehr an Gewicht gewinnen und sich in Zukunft auch gleichwertig mit den anderen Subspezialisierungen der Gynäkologie und Geburtshilfe, der gynäkologischen Onkologie, der speziellen Geburtsmedizin und der Endokrinologie und Reproduktionsmedizin wiederfinden.
Postpartale Inkontinenz ist leider nach wie vor ein Thema, über das wenig gesprochen wird – auch zwischen Frauenärztinnen und Frauenärzten und ihren Patientinnen. In der Mum-Health-Study gaben rund 70 % der Frauen an, nicht darüber gesprochen zu haben [4]. Und von den restlichen 30 % hatten rund zwei Drittel der Patientinnen das von sich aus thematisiert (Abb. 2). In der Folge wir die postpartale Inkontinenz unterdiagnostiziert und -therapiert.
Die Liste der Risikofaktoren
Bei der Gewichtung der einzelnen Risikofaktoren für die Entstehung von Erkrankungen des Beckenbodens spielt die Parität eine wichtige Rolle. Sie ist in ihrer Wichtigkeit noch vor Alter und Gewicht zu sehen [1]. Ohne die vaginale Geburt sind Erkrankungen des Beckenbodens zwar nicht ausgeschlossen, sie kommen jedoch wesentlich seltener vor als bei Frauen, die vaginal geboren haben. Damit ist die Notwendigkeit hinreichend erklärt, dass sich alle beteiligten Professionen mit Aspekten der Beckenbodenprotektion auseinandersetzen müssen.
Am ersten Tag des Symposiums wurden in verschiedenen thematischen Sessions prä- und intrapartale Aspekte der Beckenbodenprotektion diskutiert. Unter anderem wurden präventive Maßnahmen zur Identifikation von Risikogruppen und die gezielte Aufklärung werdender Mütter erörtert. Die Autorengruppe der UR-CHOICE-Risikostratifikation hat hier wegweisende Optionen aufgezeigt. Frauen, für die eine vaginale Geburt über die Maße hinaus zu negativen Veränderungen im Bereich des Beckenbodens führt, müssen frühzeitig erkannt und in besonderen Behandlungspfaden begleitet werden [5,6].
Der Bedarf für solche Pfade ist gegeben, die werdenden Mütter erwarten auch, entsprechend aufgeklärt zu werden, was die Risiken für Beckenbodenerkrankungen betrifft [7,8]. Auch wenn der Bedarf und die Bereitschaft hierzu gegeben sind, muss selbstkritisch festgehalten werden, dass die Implementierung einer solchen Risikostratifizierung in die klinische Routine noch nicht erfolgt ist.
Beckenbodenprotektion versus Schmerzmanagement?
Die Session zur „Beckenbodenprotektion während der Geburt“ konzentrierte sich auf die Herausforderungen und Methoden zur Minimierung von Beckenbodenschäden, wie etwa die optimale Geburtsposition und den Einsatz von Schmerzmanagement-Techniken. Eine kontroverse Oxford-Debatte beleuchtete, welchen Stellenwert die Länge der Austrittsperiode vor allem im Hinblick auf mögliche Schäden im Bereich des M. levator ani mit sich bringt. Selbstverständlich blieben in der Diskussion die Vorteile eines abwartenden Vorgehens nicht außen vor.
Der zweite Tag des Symposiums legte den Fokus auf postpartale Rehabilitationsmaßnahmen und die Integration der Beckenbodenprotektion in die Ausbildung von Fachkräften. Dabei wurden Themen wie Physiotherapie, die Rolle der Pessartherapie und konservative sowie operative Therapieansätze für Inkontinenz und Deszensus behandelt. Eine besondere Diskussion widmete sich der Implementierung von Beckenbodenprotektion in die klinische Routine, wobei insbesondere die interdisziplinäre Zusammenarbeit hervorgehoben wurde.
Wie kann eine beckenbodenprotektive Geburtshilfe gestaltet werden?
Im Zuge dieses Symposiums wurde klar, dass ein nachhaltiges Minimieren potenzieller Traumata, zu denen es während der vaginalen Geburt kommen kann, nur im Schulterschluss aller beteiligten Professionen und Disziplinen funktionieren kann.
Zunächst einmal müssen wir dazu beitragen, werdende Mütter empathisch darüber zu informieren, welche Veränderungen durch Schwangerschaft und Geburt auf sie zukommen können. Ein umfassendes Bild, das den Frauen überhaupt erst die Möglichkeit gibt, wissensbasiert Entscheidungen, ihre Geburt betreffend, zu fällen.
Risikopatientinnen sollten bereits präpartal physiotherapeutisch versorgt werden.
Hierbei wird es wahrscheinlich eine große Gruppe von Frauen geben, deren Analyse von Risikofaktoren ein niedriges Profil ergeben würde. Diese Frauen können in ihrem Wunsch, auf normale Art und Weise zu gebären, bestärkt werden. Bei Wunsch nach elektiver Sectio können Vor- und Nachteile dieses Eingriffs sorgfältig diskutiert werden. Möglicherweise wird man zu dem Ergebnis kommen, dass in diesen Fällen die Sectio für den Beckenboden keine Vorteile mit sich bringt. Eine andere, sicherlich kleinere Gruppe könnte in ihrem Risikoprofil etwas mehr Aufmerksamkeit bedürfen. Diese Frauen sollten in jedem Falle bereits präpartal physiotherapeutisch angebunden werden. Intrapartal gäbe es wichtige Aspekte, auf die es zu achten wert wäre. Hierbei sind Geburtsposition, Länge der Austrittsperiode, Zurückhaltung bei vaginal operativen Entbindungsmodi sowie sorgsame Beobachtung der Miktion nur einzelne Bausteine. Auch im Wochenbett und darüber hinaus benötigt die Patientin eine intensive physiotherapeutische Anbindung.
Eine wahrscheinlich kleine Hochrisikogruppe bietet in diesem System der Risikostratifizierung klare Vorteile für eine Entscheidung hin zur elektiven Sectio, zur Prävention eines Deszensus oder einer Inkontinenz. Dies sollte der Patientin dann auch so erläutert werden [8].
Die Zukunft wird zeigen, inwieweit solche Risikostratifizierungssysteme in die klinische Routine zu etablieren sind, und ob ihre Anwendung zu einer nachhaltigen Förderung der Beckenbodengesundheit führen kann.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das erste Symposium interprofessionelle Beckenbodenprotektion in Freiburg erstmalig in Deutschland alle Berufsgruppen vereinte, die Beckenbodenprotektion als relevanten Teil ihrer medizinischen Versorgung betrachten. Weitere Veranstaltungen dieser Art werden folgen. Die Veranstaltung endete mit einer Reflexion über zukünftige Herausforderungen und die Notwendigkeit, Beckenbodenprotektion als festen Bestandteil der geburtshilflichen Versorgung zu etablieren, um die Lebensqualität betroffener Frauen nachhaltig zu verbessern.
Beckenbodenprotektion muss ein fester Bestandteil der geburtshilflichen Versorgung werden, um die Lebensqualität betroffener Frauen nachhaltig zu verbessern. Und dieses Ziel wird nur interdisziplinär zu erreichen sein. Dafür war der Kongress in Freiburg ein gelungener Startschuss.
Der Autor
Prof. Dr. med. Markus Hübner
Klinik für Frauenheilkunde Universitätsklinikum Freiburg
79106 Freiburg
Bildnachweis: privat