Hunderte Krankheitsbilder sind mit Adipositas assoziiert. Daher musste auch die Politik anerkennen, dass es sich um eine chronische Erkrankung handelt. Die therapeutische Versorgungslücke zwischen Lebensstiländerung und bariatrischer Chirurgie soll sich in den kommenden Jahren schließen.
Adipositas ist eine chronische und daher dauerhaft behandlungsbedürftige Erkrankung. Die meisten Fachgesellschaften und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkennen diese Tatsache mittlerweile an. Ebenso hat dies im Juli 2020 der Deutsche Bundestag getan – zumindest teilweise. Denn die Behandlungsbedürftigkeit fällt im Moment noch unter den „Lebensstil-Paragrafen“ § 34 SGB V, wonach Medikamente zur Unterstützung der Körpergewichtsreduktion ebenso Privatsache sind wie Mittel gegen Haarausfall. Dies dürfte sich mit dem zukünftigen Disease Management Programm „Adipositas“ ändern.
Nahezu 200 Krankheitsbilder gebe es, die entweder direkt durch Adipositas verursacht oder von ihr verschlimmert werden können, erläuterte Prof. Dr. Arya Sharma (Edmonton, Kanada). Dies und die Tatsache, dass fast jeder vierte Erwachsene in Deutschland einen Body-Mass-Index (BMI) > 30 kg/m2 hat, markiert den dringenden Handlungsbedarf. Die gute Nachricht lautet, dass es Erfolg versprechende Behandlungskonzepte gibt; die schlechte, dass diese nicht unbedingt einfach umzusetzen sind. Warum? Weil es der allgemeinen Erfahrung entspricht, dass Diäten eher selten zu einer dauerhaften und relevanten Gewichtsreduktion führen. Studien und Metaanalysen bestätigen, dass das Körpergewicht im Laufe der Zeit fast immer wieder zunimmt. Ausnahme sind nach Angaben von Sharma jene hochmotivierten Patienten, die es schaffen, dauerhaft nicht mehr als durchschnittlich 1 400 kcal/Tag zu sich zu nehmen und dabei noch relativ viel Sport zu treiben, um so im Mittel 400 kcal/Tag zu verbrennen.
Warum die Gewichtsabnahme so schwer ist, fanden Wissenschaftler ebenfalls heraus. Es ist eben kein einfaches Energiebilanzproblem, das durch verminderte Zufuhr und vermehrten Verbrauch gelöst werden kann: Die steinzeitliche Physiologie unseres Körpers tut alles dafür, um sich selbst vor Gewichtsabnahme zu schützen – egal welcher Bauchumfang aktuell vorliegt. Beim Versuch, eine negative Energiebilanz zu erzeugen, schalten sich die komplexen Regelsysteme unserer Energiehomöostase ein, sorgen für vermehrten Appetit und ein Herunterfahren des Grundumsatzes. Bei körperlicher Bewegung werden weniger Kalorien verbraucht als zuvor. Der Körper gebe nicht Ruhe, bis das Ausgangsgewicht wieder erreicht ist, erklärte Sharma.
Hinzu kommt, dass Adipositas eine heterogene, meist multifaktoriell bedingte Krankheit ist. In individuell unterschiedlichem Maße spielen genetische, sozioökonomische, psychologische, traumatische, Komorbiditäts- oder auch medikamentös bedingte Ursachen hinein. Dabei sei das identifizierte polygenetische Risikoprofil derzeit nicht praxisrelevant, weil daraus keine Therapieempfehlungen abgeleitet werden könnten, erklärte Prof. Dr. med. Matthias Blüher (Leipzig). Daraus folgt: Gewichtsreduktion bei Adipositas funktioniert nur, wenn strategisch breit, multimodal und langfristig behandelt wird. Empfohlen wird ein dreiphasiges Vorgehen. In Phase I wird versucht, die kontinuierliche Gewichtszunahme zu stoppen und die individuellen Adipositasursachen zu analysieren. In Phase II erfolgt die am Ursachenprofil, am Adipositasgrad sowie an Komorbiditäten ausgerichtete Therapie zur Gewichtsabnahme, gefolgt vom schwierigsten Teil, der Phase III, der Sicherung des erreichten Gewichts.
Mit Diät, Sport und Verhaltensänderungen ist durchschnittlich ein 3- bis 5%iger Gewichtsverlust über einige Jahre realistisch. Als bislang erfolgreichste Therapie gilt eine Verhaltensänderung plus bariatrische Chirurgie. Damit können bei adipösen Menschen 20- bis 30%ige Gewichtsreduktionen erreicht werden. Zwischen diesen beiden Optionen klafft eine breite Behandlungslücke für jene Menschen, die mehr als 5 % Gewicht reduzieren müssen, aber nicht unbedingt eine chirurgische Behandlung wollen. Diese Lücke lasse sich mit Formula-Diäten und mit Medikamenten überbrücken, so Blüher. Indiziert ist die Pharmakotherapie bei einem BMI > 30 kg/m2 oder bei Übergewicht (BMI ≥ 27 kg/m2) und bestehenden Komorbiditäten. Der Lipase-Inhibitor Orlistat hemmt die Fettaufnahme im Darm und Naltrexon/Bupropion (zz. außer Vertrieb) zügeln den Appetit. Nebenwirkungen und Kontraindikationen limitieren jedoch deren Einsatz und die Effekte addieren nur wenige Prozentpunkte zu den Wirkungen von Lebensstilinterventionen hinzu.
Große Hoffnungen liegen auf Inkretinmimetika. Bereits zugelassen ist der GLP-1-Rezeptoragonist Liraglutid in einer Dosierung von 3 mg/Tag, dessen Wirksamkeit bei Adipositas auch unabhängig vom Vorliegen eines Diabetes mellitus in mehreren Studien nachgewiesen worden ist. Die Zulassung von Semaglutid in Europa ist beantragt. Mit Semaglutid sind in Studien dauerhafte Gewichtsabnahmen um durchschnittlich bis zu 17 % erzielt worden. Geprüft werden derzeit außerdem u. a. Kombinationen aus Inkretin- und Amylin-Analoga oder Moleküle, die mehr als nur einen Inkretinrezeptor ansteuern ( „Twinkretine“, Triagonisten). Damit stößt man beim Ausmaß der Gewichtsreduktion in Bereiche vor, die bislang lediglich mit bariatrischer Chirurgie erreichbar schienen.
Streamed-Up-Webinar: „Adipositas – Vielseitigkeit einer chronischen Erkrankung“, Juli 2021