Die CLL-Therapielandschaft hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert und diese Entwicklung hält an. Die nähere Zukunft wird chemotherapiefreien Substanzen mit vergleichbarer Wirkung und geringerer Toxizität gehören, perspektivisch werden auch neue Therapiestrategien, wie die CAR-T-Zelltherapie, eine immer wichtigere Rolle spielen.
Als leukämisch verlaufendes Non-Hodgkin-Lymphom der B-Zellreihe ist die chronische lymphatische Leukämie (CLL) durch eine Akkumulation morphologisch reifzelliger Lymphozyten in Blut, Knochenmark, Lymphknoten sowie Milz und manchmal Leber gekennzeichnet. Leitbefunde sind eine monoklonale Lymphozytose sowie Lymphadenopathie. Insbesondere in fortgeschrittenen Stadien findet sich gelegentlich auch ein Befall anderer Organe (z. B. Lunge, Niere, zentrales Nervensystem). Betroffen von der Erkrankung sind überwiegend ältere Menschen – das mediane Lebensalter zum Zeitpunkt einer Erstdiagnose liegt bei ca. 70 Jahren. Alterstypische Begleiterkrankungen mit Auswirkungen auf die Gesamtfitness (z. B. Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, chronische Bronchitis) finden sich bei einem relevanten Anteil solcher Patienten.[1,2] Etwa ein Drittel aller neu diagnostizierten CLL-Patienten ist hingegen relativ jung, körperlich sonst fit und steht oft noch mitten im Berufsleben. Dass der klinische Verlauf bei der CLL hochgradig variabel sein kann, ist schon sehr lange bekannt. Über zum Teil Jahrzehnte asymptomatische bzw. indolente Erscheinungsformen stehen hier rascher progredienten und aggressiven Ausprägungsvarianten gegenüber. Die dieser Heterogenität zugrunde liegenden molekularen Mechanismen (somatische Mutationen, klonale Evolution, verändertes Mikromilieu u. a.) werden zunehmend verstanden und sind Gegenstand einer dynamischen Forschung. Die Translation dort errungener Erkenntnisse zur Biologie der Erkrankung in klinisches Handeln findet aktuell sehr beschleunigt statt. Für die Therapieentscheidung werden neben der Mutation des TP53-Gens (tumor suppressor protein 53) zunehmend auch andere molekulare Marker relevant. Das gilt besonders für den IGHV-Mutationsstatus (immunoglobulin heavy chain variable region gene), welcher in der Ära der Immunchemotherapie nur prognostische Bedeutung hatte, jetzt aber prädiktive Relevanz erlangt. Gleichzeitig hat das biologische Erkrankungsverständnis zu neuen, nicht-zytostatischen Medikamenten geführt (s. Tab. 1), welche die Therapielandschaft der CLL seit fünf bis zehn Jahren umfassend verändern und dabei die Immunchemotherapie als bisherigen Behandlungsstandard immer weiter zurückdrängen.
Die Stimulation des B-Zell-Rezeptors als ein für CLL-Zellen wichtiges Überlebenssignal lässt sich heute mit diversen Kinaseinhibitoren therapeutisch unterbrechen (s. Abb.). Ibrutinib, ein Hemmer der sogenannten Bruton-Tyrosinkinase (BTK), ist das derzeit prominenteste und am erfolgreichsten erprobte Mitglied aus dieser Medikamentengruppe. Andere zugelassene und nicht zugelassene B-Zell-Rezeptor-Inhibitoren spielen in aktuellen Therapiealgorithmen eine deutlich untergeordnete oder noch keine Rolle. Auch die CLL-Zellen verlorengegangene Fähigkeit zur Apoptose lässt sich neuerdings therapeutisch beeinflussen und restaurieren. Venetoclax hemmt (über Zwischenschritte) das apoptosehemmende Bcl-2-Protein (b-cell lymphoma 2 protein) und befähigt so CLL-Zellen wieder zur Apoptose.
Im Gegensatz zu den bei der CLL therapeutisch eingesetzten CD20-Antikörpern (v. a. Rituximab, Obinutuzumab) und einigen Zytostatika (z. B. Fludarabin, Bendamustin) werden Ibrutinib und Venetoclax oral in Tablettenform verabreicht, was die Einnahme dieser Medikamente – eine entsprechende Compliance vorausgesetzt – sehr komfortabel macht. Obwohl es sich um „chemotherapiefreie“ Therapien handelt, ist die Behandlung aber nicht zwingend toxizitätsfrei. Chemotherapietypische Nebenwirkungen wie z. B. Myelosuppression, Mukositis, Nausea und Emesis, Alopezie oder Sekundärneoplasien sind mit Ibrutinib bzw. Venetoclax zwar weniger häufig zu erwarten. Dafür haben beide Medikamente ein substanzspezifisches Nebenwirkungsprofil (Ibrutinib: u. a. Gerinnungsstörung, intermittierend Diarrhoe, Vorhofflimmern, Exanthem, Arthralgien; Venetoclax: Tumorlysesyndrom, Neutropenie).[3,4] Bei gleichzeitig bestehender Polypharmazie sind auch adverse Medikamenteninteraktionen möglich. Diesen Risiken steht jedoch ein eindrucksvoller klinischer Wirksamkeitsnutzen gegenüber.
Die Kombination aus Chemotherapie und einem monoklonalen CD20-Antikörper (Immunchemotherapie) war über viele Jahre die Standardbehandlung sowohl der unvorbehandelten als auch vorbehandelten CLL gewesen und vor allem für die Erstlinie im Verlauf in Bezug auf die Patientenfitness optimiert worden.[5–9] In der Rezidivsituation hatte sich die alleinige Immunchemotherapie dann jedoch gegenüber Ibrutinib- bzw. Venetoclax-haltigen Behandlungsregimen in mehreren randomisiert-kontrollierten Studien als unterlegen gezeigt[10–12] und damit ihren Status als Standard weitgehend eingebüßt. Für die Erstliniensituation standen solche Daten hingegen länger aus. Hier hatte es zunächst lediglich eine Studie gegeben, welche eine Erstlinientherapie mit Ibrutinib mit einer Chlorambucil-Monochemotherapie, nicht aber der Immunchemotherapie verglich[13], und komparative Studien zu Venetoclax in der Erstlinie fehlten völlig. Mit der nahezu zeitgleichen Veröffentlichung der Ergebnisse von vier randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs), welche Ibrutinib- bzw. Venetoclax-haltige Erstlinienregime im Vergleich zu einer Immunchemotherapie untersuchten, wurde diese Erkenntnislücke nun zu einem erheblichen Teil geschlossen (s. Tab. 2):
In die ECOG-ACRIN-Studie E1912[14] wurden 529 tendenziell jüngere (d. h., ausnahmslos unter 70-jährige) und physisch fitte Patienten mit therapiepflichtiger, aber bislang therapienaiver CLL mit Ibrutinib plus Rituximab oder einer Standard-Immunchemotherapie mit Fludarabin, Cyclophosphamid und Rituximab (FCR-Schema) behandelt. Die Ibrutinib-haltige Kombination war dabei der Immunchemotherapie hinsichtlich dem progressionsfreien Überleben als primären Studienendpunkt (89 % versus 73 % nach drei Jahren), und sogar dem Gesamtüberleben überlegen. In Subgruppenanalysen zeigte sich die Überlegenheit des Ibrutinib-Arms vor allem bei Patienten mit unmutiertem IGHV. Die Gesamtrate an Grad 3–5 Toxizität war in beiden Studienarmen gleich. Myelosuppression und Infektionen waren aber signifikant häufiger im Immunchemotherapie-Arm zu beobachten. BTK-Inhibitor-spezifische Nebenwirkungen (z. B. de novo Vorhofflimmern, Hypertension) wurden etwas häufiger im Ibrutinib-Arm gesehen, wobei die absolute Rate jedoch insgesamt nicht allzu hoch war. Die ALLIANCE-Studie A041202[15] rekrutierte 547 tendenziell ältere Patienten (medianes Alter 71 Jahre) mit unvorbehandelter CLL. Hier erfolgte eine Randomisierung in drei Studienarme: Ibrutinib allein, Ibrutinib plus Rituximab oder Standard-Immunchemotherapie mit Bendamustin und Rituximab (BR-Schema). Auch in dieser Studie waren die Ibrutinib-haltigen Regime der Immunchemotherapie hinsichtlich des progressionsfreien Überlebens als primärer Endpunkt klar überlegen (88 % bzw. 87 % versus 74 % nach zwei Jahren). Zwischen den beiden Ibrutinib-Armen gab es keinen Wirksamkeitsunterschied. Auch in dieser Studie war der progressionsverzögernde Effekt durch Ibrutinib gegenüber der Immunchemotherapie prominenter bei Patienten mit unmutiertem IGHV als bei Patienten mit mutiertem IGHV. Das Gesamtüberleben war in allen drei Armen gleich. Bezüglich des Nebenwirkungsprofils zeigte Ibrutinib auch hier Vorteile gegenüber der Immunchemotherapie im Hinblick auf Myelosuppression und fieberhafte Infektionen.
In der iLLUMINATE-Studie[16] wurde ebenfalls die Gruppe der älteren Patienten mit therapienaiver CLL adressiert. Eingeschlossen und randomisiert zwischen einer Kombination aus Ibrutinib plus Obinutuzumab (vormals GA101) und Chlorambucil plus Obinutuzumab (G-CLB Schema) wurden insgesamt 229 Patienten (medianes Alter 71 Jahre) mit gemäßigter Komorbidität (im Median vier Punkte in der Cumulative Illness Rating Scale). Beachtenswert war in dieser Studie ein relativ hoher Anteil von Patienten mit TP53-Mutation (knapp 20 %). Wie in den beiden voraus genannten Studien zeigte sich für das progressionsfreie Überleben als primärer Endpunkt eine klare Überlegenheit im Ibrutinib-Arm gegenüber dem Immunchemotherapie-Arm (79 % versus 31 % nach 2,5 Jahren). Auch hier war der Wirksamkeitseffekt bei Patienten mit unmutiertem IGHV stärker. Ein Unterschied im Gesamtüberleben war nicht zu sehen, wobei fast die Hälfte aller Patienten nach Versagen der Immunchemotherapie im Anschluss eine Salvage-Behandlung mit Ibrutinib erhielten. Myelosuppression mit Neutropenie fand sich häufiger bei der Immunchemotherapie, während Diarrhoe, Hypertension und Vorhofflimmern mit Ibrutinib häufiger auftraten. Adressat der von der Deutschen CLL Studiengruppe (DCLLSG) koordinierten CLL14-Studie[17] war ebenfalls die Gruppe älterer Patienten mit unvorbehandelter CLL. Die in diese Studie eingeschlossenen 432 Patienten hatten ein medianes Lebensalter von 72 Jahren und deutlichere Komorbidität (im Median acht Punkte in der Cumulative Illness Rating Scale). Randomisiert wurde zwischen einer Kombination aus Venetoclax plus Obinutuzumab und Chlorambucil plus Obinutuzumab (G-CLB Schema). Im Gegensatz zu den drei beschriebenen BTK-Inhibitor-Studien, wo Ibrutinib bis zur Dokumentation einer Krankheitsprogression verabreicht wurde, war in der CLL14-Studie die Therapiedauer nicht nur im Immunchemotherapie-, sondern auch im Venetoclax-Arm begrenzt (maximal zwölf Monate). Bezüglich des progressionsfreien Überlebens als primärer Studienendpunkt zeigte sich das chemotherapiefreie Venetoclax-Regime gegenüber der Immunchemotherapie klar überlegen (88 % versus 64 % nach zwei Jahren). Ähnlich wie in den genannten Ibrutinib-Studien war auch hier der IGHV-Mutationsstatus prädiktiv für den Wirksamkeitsvorteil. Ein statistisch signifikanter Unterschied im Gesamtüberleben zeigte sich nicht. Bemerkenswert war die im Venetoclax-Arm im Vergleich zur Immunchemotherapie deutlichere und länger anhaltende Messbarkeit einer minimalen residuellen Resterkrankung (MRD), welche sich mit oben genannten Ibrutinib-Regimen so nicht erzielen lässt. In den Nebenwirkungsprofilen ergaben sich keine klinisch relevanten Unterschiede zwischen beiden Studienarmen.
Gegenüber einer Erstlinienbehandlung mit Immunchemotherapie zeigten chemotherapiefreie Regime mit Ibrutinib bzw. Venetoclax in allen vier Studien eine signifikant bessere Wirksamkeit und überwiegend auch ein insgesamt günstigeres Nebenwirkungsprofil. Auf dieser Basis muss die Immunchemotherapie als vormaliger Standard bei der CLL nunmehr nicht nur in der Rezidivsituation, sondern auch in der Primärtherapie infrage gestellt werden – wie das aktualisierte nationale Therapieempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO – Onkopedia)[18] und der DCLLSG tun. Neben der vormals schon etablierten Zielgruppe von Patienten mit Hochrisikomerkmalen (d. h. TP53-Mutation) sollten in der Erstliniensituation jetzt unabhängig von Lebensalter und Fitness auch solchen Patienten ohne diese expliziten Risikomerkmale eine chemotherapiefreie Behandlung mit Ibrutinib erläutert und angeboten werden. Dies gilt vor allem für Patienten mit unmutiertem IGHV. Bei Patienten mit mutiertem IGHV sind nach aktueller Datenlage die Wirksamkeitsvorteile gegenüber der Immunchemotherapie geringer ausgeprägt, wenngleich eine geringere Effektivität nicht befürchtet werden muss und Nebenwirkungen möglicherweise geringer ausfallen.
In die Therapieentscheidung sollten in jedem Fall auch die persönliche Erfahrung des Behandlers, das individuelle Komorbiditätsprofil des Patienten (einschließlich seiner chronischen Komedikation), die Adhärenz sowie vor allem die individuelle Patientenpräferenz hinsichtlich Therapieart und -dauer einfließen. Denn zu beachten ist, dass zugelassene Ibrutinib-haltige Regime zur Aufrechterhaltung einer anhaltenden Krankheitskontrolle mit unbegrenzter Therapiedauer verabreicht werden müssen, was bei der Immunchemotherapie nicht erforderlich ist (Möglichkeit einer therapiefreien Zeit). Die in der CLL14-Studie der DCLLSG erfolgreich erprobte Kombination aus Venetoclax plus Obinutuzumab könnte letzteres in naher Zukunft auch erstmals für ein chemotherapiefreies Erstlinienregime bei der CLL ermöglichen. Eine entsprechende Zulassung in Europa und Deutschland steht aber erst noch aus. Mit Blick auf weitere neue Medikamente, vielfältige weitere Kombinationsoptionen, aber auch bekannte klinische Herausforderungen (z. B. Hochrisikopatienten, sehr junge Patienten, sehr alte gebrechliche Patienten) werden weitere Untersuchungen und Innovationen unumgänglich sein. Der Weg zur optimalen Behandlung der CLL ganz ohne Zytostatika scheint somit trotz der kürzlichen Errungenschaften noch nicht zu Ende und bleibt sehr spannend.
Fazit
Gegenüber einer Erstlinienbehandlung mit Immunchemotherapie zeigten chemotherapiefreie Regime mit Ibrutinib bzw. Venetoclax in mehreren Studien eine signifikant bessere Wirksamkeit und überwiegend auch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil. Auf dieser Basis muss die Immunchemotherapie als vormaliger Standard der CLL auch in der Primärtherapie zunehmend infrage gestellt werden.
Der Autor
PD Dr. med. Valentin Goede
Sektion für Onkologische Geriatrie
St. Marien-Hospital
Kunibertskloster 11–13
50668 Köln
[1] https://seer.cancer.gov/statfacts/html/clyl.html
[2] Thurmes P et al., Leuk Lymphoma 2008; 49: 49–56
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[18] www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/chronische-lymphatische-leukaemie-cll/@@guideline/html/index.html
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