Frauen sind im reproduktiven Alter häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen als Männer [1]. Wird eine Kontrazeption gewünscht, muss bei der Beratung die vorliegende Grunderkrankung berücksichtigt werden. Diese Kasuistik schildert den Fall einer 42-Jährigen mit Multipler Sklerose und Blutungsstörungen.
Eine 42-jährige Patientin mit seit 5 Jahren bekannter Multipler Sklerose (MS) hat unter einer kombinierten oralen Kontrazeption häufige Zusatzblutungen. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und betrachtet ihre Familienplanung als abgeschlossen. Sie ist moderat übergewichtig (BMI = 29), weitere Risiken für thrombotische Ereignisse in der Eigen- und Familienanamnese gibt es nicht. Die Patientin ist Nichtraucherin.
Zunächst wurde ihr eine Pille mit höherer Estrogendosis (von 20 µg auf 30 µg Ethinylestradiol, EE) verordnet, doch die Blutungsstörungen persistierten. Schließlich stellte sich die Patientin bei uns mit dem Wunsch nach Umstellung der Kontrazeption vor.
Die Grunderkrankung Multiple Sklerose
Die Multiple Sklerose ist eine komplexe neurologische Erkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft und sowohl die körperliche als auch die kognitive Funktion beeinträchtigen kann. Trotz intensiver Forschung ist die genaue Ursache von MS noch nicht vollständig verstanden [2].
Bei der MS werden die Myelin-scheiden geschädigt und es kommt zu neurologischen Symptomen.
Bei der MS handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der die Myelinscheiden geschädigt werden. Es kommt zu einer schubweisen oder chronischen Entzündung [3]. Dies führt zu einer gestörten Signalübertragung und kann eine Vielzahl von neurologischen Symptomen verursachen, beispielsweise Muskelschwäche, Koordinationsprobleme, Sehstörungen und kognitive Einschränkungen.
Es wurden mehrere Gene identifiziert, die mit einem erhöhten MS-Risiko assoziiert sind, darunter solche, die die Immunantwort und die Regulation des Immunsystems beeinflussen [4].
Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Entstehung von MS ist das komplexe Zusammenspiel des Immunsystems mit dem zentralen Nervensystem. Es wird angenommen, dass ein gestörtes Gleichgewicht zwischen proinflammatorischen (entzündungsfördernden) und antiinflammatorischen (entzündungshemmenden) Mechanismen zur Entwicklung der Erkrankung beitragen kann. Darüber hinaus können Umweltfaktoren das Risiko für MS beeinflussen [5].
MS und der weibliche Zyklus
Die zyklusbedingten Hormonschwankungen von Estrogen und Progesteron scheinen die Krankheitsaktivität bei Frauen mit MS zu modulieren [5]. Schon seit 20 Jahren ist bekannt, dass der Estrogenspiegel während des präovulatorischen Zeitraums, wenn er am höchsten ist, mit einer Abnahme der MS-Symptome verbunden sein kann. Umgekehrt erleben Frauen mit MS während der Menstruation und kurz danach, wenn der Estrogenspiegel abfällt, häufiger Schübe [6]. Das deutet darauf hin, dass Estrogen einen neuroprotektiven Effekt haben könnte.
Studien deuten auf einen möglichen neuroprotektiven Effekt von Estrogen hin.
Eine randomisierte, placebokontrollierte Phase-II-Studie untersuchte den Einsatz von Estrogenen bei Frauen mit schubförmig remittierender MS in Kombination mit dem Immunmodulator Glatirameracetat, der einen günstigen Effekt auf den Krankheitsverlauf hatte [7]. Diese Studie unterstützt die Annahme, dass die Hormongabe möglicherweise einen positiven Einfluss auf die MS-Symptome haben kann.
Überlegungen zur Kontrazeption
Bei der gynäkologischen Untersuchung einschließlich Vaginalsonografie zeigt sich ein Uterus myomatosus (3 intramurale Myome). Da die Myome nicht cavumnah lokalisiert waren, konnten sie als Ursache der Blutungsstörungen ausgeschlossen werden. Die Endometriumdicke post menstruationem betrug 5 mm.
Da die Patientin definitiv keine andere orale Kontrazeption wollte, stellten wir ihr ein LNG-IUS und den Vaginalring als Alternativen vor. Für beide Varianten gibt es keine Einschränkungen bezüglich der Grunderkrankung MS, sodass beide Optionen uneingeschränkt einsetzbar wären. Nach kurzer Bedenkzeit hat sich die Patientin schließlich für den Vaginalring entschieden. Aufgrund des positiven Einflusses auf die Grunderkrankung MS hatten wir ihr zur dauerhaften Anwendung des Rings im Langzyklus (off-label) geraten.
Bei der ersten Kontrolle nach 3 Monaten zeigte sich die Patientin sehr zufrieden. Sie hatte in dieser Zeit keine Exazerbationen der MS und praktisch keine Blutungen. Das deckt sich mit den Ergebnissen zweier Studien aus den 2000er-Jahren [8,9]. Auch dort waren die Blutungsmuster bei Patientinnen mit Vaginalring besser als bei solchen mit kombinierten oralen Kontrazeptiva (30 µg EE plus 150 µg Levenorgestrel bzw. 30 µg EE plus 3 mg Drospirenon).
Bei der Patientin mit Multipler Sklerose als Grunderkrankung und häufigen Zwischenblutungen unter kombinierter oraler Kontrazeption konnten durch Umstellung auf einen Vaginalring und Anwendung im Langzyklus die Blutungen deutlich reduziert werden. Im bisherigen Verlauf traten keine Exazerbationen der MS auf.
Der Autor
Prof. Dr. med. Thomas Römer
Chefarzt der Frauenklinik in Köln-Weyertal
Herausgeber des Journals DER PRIVATARZT GYNÄKOLOGIE
1 Conrad M et al., Lancet 2023; 401: 1878–90
2 Lassmann H, Exp Neurol 2014; 262 Pt A: 2–7
3 Hemmer B et al., Lancet Neurol 2015; 14: 406–19
4 Mazzone R et al., Clin Epigenet 2019; 11: 34
5 Ascherio A et al., Nat Rev Neurol 2012; 8: 602–12
6 Sicotte NL et al., Ann Neurol 2002; 52: 421–8
7 Voskuhl R et al., Lancet Neurol 2016; 15: 35–46
8 Oddsson K et al., Hum Reprod 2005; 20: 557–62
9 Milsom I et al., Hum Reprod 2006; 21: 2304–11
Impressum
Bericht: Prof. Dr. med. Thomas Römer I Redaktion und Konzept: Dr. rer. nat. Reinhard Merz
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