Wie im vergangenen Jahr musste der Deutsche Schmerz- und Palliativtag auch in diesem Jahr rein online realisiert werden. Viele vermissen zwar den persönlichen Kontakt, aber auch das neue Format bietet Möglichkeiten zum intensiven Austausch.
Auch online kann Wellen schlagen! Wäre der von der Deutschen Gesellschaft fürSchmerzmedizin (DGS) und der Deutschen Schmerzliga (DSL) zusammen mit derDeutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) sowie der DeutschenGesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)online realisierte Deutsche Schmerz- und Palliativtag ein Wirtschaftsunternehmen,so wäre man angesichts des großen Zuspruchs und der Teilnahme von knapp 4 000 Teilnehmern aus dem ganzenBundesgebiet versucht, das Attribut „Krisengewinner“ zu vergeben. Dabei ist dieses Ergebnis eigentlich nur die logische Konsequenz des bereits vor Jahren eingeleiteten schrittweisen Umbaus eines sehr erfolgreichen Präsenzformates und dessen Anpassung an die neuen Herausforderungen zeitgemäßer medizinischer Fortbildung und bestehender Kontaktbeschränkungen.
Den Online-Teilnehmern wurde über fünf Tage ein breites und facettenreiches Spektrum unterschiedlichster Themenschwerpunkte angeboten. Diese reichten von
• aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der akuten und vorbeugenden Therapie der Migräne, über
• Probleme der Aufrechterhaltung bedürfnisorientierter Palliativkonzepte unter COVID-19-bedingten Kontaktbeschränkungen,
• den Stellenwert psychosomatischer Verfahren,
• die Differenzialtherapie verschiedenster Schmerzsyndrome mit Opioidanalgetika,
• nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR),
• Nichtopioiden,
• Ko-Analgetika und Cannabinoiden,
• multimodale Behandlungskonzepte unter ambulanten, teil- und vollstationären Bedingungen,
• Möglichkeiten und Grenzen interventioneller und operativer Verfahren zur Schmerzlinderung,
• den Einsatz komplementärer Therapieverfahren (z. B. Blutegel etc.) sowie
• ein breites Spektrum gesundheitspolitischer Themen rund um aktuelle Fragestellungen aus Schmerz- und Palliativmedizin.
Neben den Fachbeiträgen wurde insbesondere dem interkollegialen Austausch und der Diskussion breiter Raum eingeräumt – auch jenseits der eigentlichen Symposien, sodass sich das allgemeine Bedürfnis nach Rückkehr zum altbewährten Präsenzformat in Grenzen hielt.
Spitzenreiter des Teilnehmerinteresses war mit fast 1 500 Teilnehmern das Symposium rund um den Stellenwert von medizinisch-wissenschaftlicher Evidenz für den konkreten Behandlungsfall im Alltag. Hier gelang es, Vor- und Nachteile kontrollierter klinischer Studien und aggregierter Anwendungserfahrungen auf der Grundlage von (schmerz-)medizinischen Routinedaten in Form der Real-World-Evidenz zu verdeutlichen und aufzuzeigen. Zudem wurde diskutiert, welche Grenzen/Gefahren durch die isolierte/getrennte Fokussierung der beiden Evidenzbereiche drohen und welches Potenzial sich aus der synergistisch additiven Nutzung beider Forschungsbereiche für den individuellen Behandlungsfall im praktischen Alltag ergeben kann.
Breiter Raum wurde naturgemäß auch dem Einsatz von Cannabis als (Schmerz-)Medizin eingeräumt, welcher seit März 2017 möglich ist. Dabei wurden „Für“ und „Wider“ verschiedener Darreichungs- und Anwendungsformen und deren Einsatz bei verschiedensten schmerz- und palliativmedizinisch sinnvollen Indikationsgebieten erörtert. Gleichzeitig wurde aber auch die unverändert unzureichende medizinisch-wissenschaftliche Evidenz und die mit dem Einsatz verbundenen Sicherheitsprobleme insbesondere bzgl. des seit geraumer Zeit überhand nehmenden Einsatzes inhalativer Blütentherapien kontrovers diskutiert.
Ein weiterer Höhepunkt war sicherlich die offene und konstruktive Auseinandersetzung um die Möglichkeiten der Selbstbestimmung des Lebensendes rund um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020. Dazu gehörte die Vergabe des von der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin und der Deutschen Schmerzliga gestifteten Deutschen Schmerzpreises 2020 an den Wittener Palliativmediziner Dr. med. Matthias Thöns – einem der Kläger gegen den § 217 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht und bekannter Kritiker der gerade am Lebensende vielfach beobachteten ökonomischen Gewinnmaximierung medizinischen Handelns.
Abgeschlossen wurde der Deutsche Schmerz- und Palliativtag 2021 zum einen mit dem Tag des Fachpersonals, an dem sich mehr als 700 schmerzmedizinisch interessierte Vertreter ärztlicher Assistenzberufe über verschiedenste Aspekte der praktischen Schmerz- und Palliativmedizin – gerade auch unter den besonderen Rahmenbedingungen der gesetzlichen Kontaktbeschränkungen wegen COVID-19 – informierten. Zum anderen fand ein interaktives gesundheitspolitisches Symposium zum Thema „Sichere Versorgung in der Schmerzmedizin“ mit fast 1 000 Teilnehmern großes Interesse.
Der Autor
PD Dr. med. Michael A. Überall
Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie & Pädiatrie – IFNAP
DGS Exzellenzzentrum für Versorgungsforschung
90411 Nürnberg