- Anzeige -
Allgemeinmedizin

Reizdarmsyndrom

Diagnose und Therapie

Ellen Wölk, Prof. Dr. med. Andreas Stengel

In der Behandlung des Reizdarmsyndroms (RDS) ist die Kombination von drei Aspekten, allgemeine Lebensstilmodifikationen, spezifische pharmakologische Therapie und Psychotherapie, zu wählen. Der Einfluss des Mikrobioms und die Option spezieller Diäten stehen aktuell besonders im Fokus.

Das Reizdarmsyndrom (RDS) präsentiert sich durch eine Vielzahl an Symptomen. In erster Linie treten abdominelle Schmerzen, Stuhlunregelmäßigkeiten und Blähungen auf, welche zu einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität der Patienten führen. In der S3-Leitlinie wird die Erkrankung durch das mindestens dreimonatige Bestehen von Darmbeschwerden (Stuhlveränderungen sind nicht obligat), die daraus resultierende Minderung der Lebensqualität und den Ausschluss von organischen Erkrankungen als Ursache definiert. International werden zumeist die Rom-IV-Kriterien benutzt, in denen der Fokus auf abdominellen Schmerzen und Stuhlveränderungen liegt.

Um das Reizdarmsyndrom zu klassifizieren, unterscheidet man im Zuge der Rom-IV-Kriterien und der Bristol Stool Form Scale (BSFS) in vier Subtypen:

• RDS-D (diarrhea) > 25 % der Stühle flüssig oder enthalten weiche Klümpchen (Typ 6 und 7)

• RDS-C (constipation) > 25% der Stühle feste Kügelchen oder wurstartig, klumpig (Typ 1 und 2)

• RDS-M (mixed) > 25 % der Stühle Typ 1 und 2; > 25 % Typ 6 und 7

• RDS-U (unsubtyped) anhand der BSFS nicht einzuordnen

Hohe Komorbidität bei Reizdarmsyndrom

Die international gemittelte Prävalenz des Reizdarmsyndroms ist mit 11,2 % hoch. Für Deutschland existiert eine Prävalenz von 5–10 %, wobei nur ein Bruchteil der Fälle tatsächlich diagnostiziert werden. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Das Reizdarmsyndrom ist außerdem häufig mit anderen Erkrankungen assoziiert, wobei mehr als 20 % der Reizdarmsyndrom-Patienten weitere somatoforme Störungen aufweisen. Insbesondere Angsterkrankungen und Depressionen treten gehäuft im Zusammenhang mit RDS auf und verdoppeln ihrerseits das Risiko, an einem Reizdarmsyndrom zu erkranken.

Pathophysiologie und Risikofaktoren

Die Entstehung der Darmerkrankung ist multifaktoriell und beruht auf dem biopsychosozialen Krankheitsmodell. Nach diesem Modell tragen somatische (z. B. [Epi-]Genetik, Infektionen), psychische (z. B. Krankheitsverhalten, early-life stress) und auch soziale Aspekte (z. B. sozioökonomischer Status) zur Pathophysiologie bei. Besonders oft treten die Symptome des Reizdarmsyndroms nach gastrointestinalen Infektionen auf (10,1 % der Patienten mit infektiösen Gastroenteritiden entwickeln nach zwölf Monaten ein Reizdarmsyndrom).

In den vergangenen Jahren konnten zahlreiche biologische Veränderungen bei Patienten mit Reizdarmsyndrom aufgezeigt werden. Zu den vermutlich einflussreichsten Auffälligkeiten zählen eine epitheliale Barrierestörung mit erhöhter Permeabilität, eine viszerale Hypersensitivität sowie die veränderte Motilität und Sekretion des Gastrointestinaltraktes. Außerdem liegt eine Störung des (Neuro-)Immungleichgewichts vor (Zunahme von Mastzellen und enteroendokrinen Zellen in der Mukosa). Hierbei offenbart sich die Wichtigkeit der Darm-Gehirn-Achse, deren Dysfunktion zur Entstehung der somatischen Auffälligkeiten im Kontext neurologischer und psychischer Faktoren beiträgt.

Die Gesamtheit der intestinalen Bakterienflora (Mikrobiom) kann bei Patienten mit Reizdarmsyndrom Abweichungen in der Zusammensetzung aufweisen. Diese Auffälligkeiten können einen Erklärungsansatz für die Auswirkungen von Infektionen und Antibiotikatherapie für die Entstehung des Reizdarmsyndroms liefern. Die hohe Prävalenz von psychischen Komorbiditäten bei Patienten mit Reizdarmsyndrom legt nahe, dass die Darmerkrankung einen Risikofaktor für die Entwicklung dieser Krankheitsbilder darstellt. Das Reizdarmsyndrom kann sich auch sekundär zu diesen psychischen Erkrankungen entwickeln. Akuter Stress bedingt eine Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), welche proinflammatorische Signale des Gastrointestinaltraktes aktiviert und die Reizdarmsyndrom-Symptomatik negativ beeinflussen kann. Insbesondere stellen traumatisierende Lebensereignisse einen Risikofaktor für die Entwicklung des RDS dar. Auch erlerntes Krankheitsverhalten kann bei Patienten mit Reizdarmsyndrom eine ursächliche oder aufrechterhaltende Rolle spielen.

Diagnostisches Vorgehen

Die Sicherung der Diagnose umfasst ausführliche Basisdiagnostik, gefolgt von individueller Ausschlussdiagnostik von relevanten Differenzialdiagnosen (s. Abb.). Die Basisdiagnostik beinhaltet eine umfangreiche Anamnese, in der die Diagnosekriterien und die Symptomatik erfasst werden. Zusätzlich gehören zur Basisdiagnostik die körperliche Untersuchung (inklusive digital-rektaler Untersuchung), ein Labor (Blutbild, CRP/BSG und Urinstatus), eine Abdomensonografie und ggf. die gynäkologische Untersuchung. Bei typischer Beschwerdekonstella­tion kann nun schon der Verdacht auf ein Reizdarmsyndrom gestellt sowie eine zeitlich befristete, probatorische Therapie begonnen werden, um eine Überdiagnostik zu vermeiden. Zur Sicherung des Reizdarmsyndroms sollte jedoch mittels indi­viduell angepasster diagnostischer Methoden (z. B. Endoskopie, Nahrungsmittelunverträglichkeitstests) eine Ausschlussdiagnostik erfolgen, wobei die Ileokoloskopie als Goldstandard gilt. Besonders wichtig ist auch die Abklärung von chronischen Diarrhoen mittels Erregerdiagnostik im Stuhl.

Die Liste der Differenzialdiagnosen ist lang, weshalb sich behandelnde Ärzte auf den Ausschluss der relevantesten konzentrieren sollten. Dabei ist es ratsam, unter Beachtung von Schwere und zeitlichem Verlauf der Symptome, nach Beschwerdekonstellation vorzugehen.

Vielzahl therapeutischer Ansatzpunkte

Das Reizdarmsyndrom äußert sich aufgrund der biopsychosozialen Pathogenese in einer großen Variabilität der Symptome, weshalb es keine Standardtherapie für alle Patienten gibt. Die Vielzahl der womöglich ätiologischen Aspekte eröffnet ein großes Feld an therapeutischen Ansatzpunkten, wobei Ziel ist, diese in Kombination bestmöglich auf den Patienten anzupassen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Eine komplette Heilung erfolgt nur in 10 % der Fälle, weshalb ein rein kuratives Therapieziel nicht sinnvoll ist. Grundlage jeder erfolgreichen Behandlung stellt sowohl ein psychoedukatives Gespräch als auch eine gute Arzt-Patienten-Beziehung dar.

Die Therapie besteht aus drei Ansätzen, die einerseits Lebensstilinterventionen und eine Pharmakotherapie umfassen. Auf diese wird im Folgenden eingegangen. Für die dritte Therapiesäule, Psychotherpie bzw. Psychopharmaka, wird auf die Ausgabe 6/2019 von DER PRIVATARZT verwiesen.

Lebensstilmodifikationen werden empfohlen

Spezielle Lebensstilanpassungen beim Reizdarmsyndrom gibt es keine; allerdings wird ein gesunder Lebensstil mit ausgewogener Ernährung, Stress­reduktion, ausreichend Schlaf und regelmäßiger sportlicher Betätigung empfohlen (Yoga als therapeutische Option).

Eine aktuell häufig diskutierte diätetische Maßnahme in der Behandlung des Reizdarmsyndroms ist die „FODMAP-arme Diät“ („fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole“). Das Mikrobiom produziert bei der Aufspaltung der FODMAPs (womöglich bei Veränderung des Mikrobioms noch mehr) Gase, die Spaltprodukte binden Wasser und regen die Sekretion an, weshalb eine FODMAP-arme Ernährung zur deutlichen Besserung der abdominellen Schmerzen und Blähungen bei Patienten mit Reizdarmsyndrom führen kann. Allerdings sind die Effekte eher kurzfristig beobachtet, die langfristigen Folgen der eher restriktiven Diät sollten weiter untersucht werden.

Auf Probiotika kann ebenfalls zurückgegriffen werden, die Forschungslage ist jedoch sehr heterogen und die optimale Kombination und Konzentration von Bakterienstämmen weitestgehend unklar.

Symptombezogene Pharmakotherapie

Eine medikamentöse Therapie des Reizdarmsyndroms sollte symptomatisch unter Beachtung der dominierenden Beschwerden in Kombination mit den Lebensstilmodifikationen erfolgen. Zur Schmerz­therapie im Rahmen des Reizdarmsyndroms werden nach den S3-Leitlinien zunächst Spasmolytika (z. B. Butylscopolamin) und Phytotherapeutika (z. B. Pfefferminzöl) als Behandlungsoptionen empfohlen, welche sich auch in neueren Studien bewährten. Bei schwerer Symptomatik können 5-HT3-Antagonisten (z. B. Ondansetron) oder Antidepressiva in geringer Dosierung (Effekt vorrangig auf den Gastrointestinaltrakt) versucht werden, wobei trizyklische Antidepressiva für den D-Subtyp und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer empfohlen werden. Die analgetische Wirkweise der Antidepressiva ist noch nicht vollständig geklärt.

Speziell im Hinblick auf den D-Subtyp und somit das Symptom Diarrhoe sollte laut Leitlinie ein Therapieversuch mit dem Opioid-Antagonisten Loperamid (Hemmung der Kolonmotilität) angedacht werden, wobei jedoch Eluxadolin (μ- und κ-Opioid-Rezeptor-Agonist und δ-Opioid-Rezeptor-Antagonist) in einer aktuellen Metaanalyse Vorteile gegenüber Loperamid aufwies. Weiterhin besteht Evidenz, dass Spasmolytika, 5-HT3-Antagonisten und wasserunlösliche Ballaststoffe (z. B. Kleie) zur Linderung der Symptome beitragen können.

In Bezug auf die Beschwerden Obstipation und Flatulenz/Meteorismus sind therapeutisch in erster Linie osmotisch wirksame Laxantien vom Macrogol-Typ und wasserlösliche Ballaststoffe (z. B. Psyllium) zu erwägen. Bleibt ein Ansprechen auf die Therapie aus, sollte ein Therapieversuch mit Lubiproston (Chloridkanal-Aktivator) oder Prucaloprid (5-HT4-Agonist) erfolgen, welche motilitätssteigernd wirken und bei chronischer Obstipation gute Erfolge erzielen können. Als Phytotherapeutikum wird lediglich die Pflanzenmixtur STW 5 empfohlen, welche beim O-Subtyp die Beschwerden verbessern kann. Gegen Blähbeschwerden kann gegebenenfalls ein Therapieversuch mit Gasbindern (z. B. Simeticon) oder mit dem Antibiotikum Rifaximin, das über Reduktion gasbildender Bakterien wirkt, erfolgen.

Mehr Evidenz erforderlich

Unter Beachtung der hohen Prävalenz des Reizdarmsyndroms wurden in den vergangenen Jahren viele Studien zur Klärung von Ätiologie und Therapieoptionen durchgeführt. Es besteht erheblicher Forschungsbedarf im Hinblick auf den tatsächlichen Einfluss des Mikrobioms beim Reizdarmsyndrom, inwieweit antibiotische und probiotische Interventionen sinnvoll und inwiefern aktuelle Therapieoptionen wie der fäkale Mikrobiomtransfer (bisher gibt es keine ausreichende Evidenz hierzu) denkbar sind. Aufgrund der stark geminderten Lebensqualität der Betroffenen sollte die multifaktorielle Entstehung des Krankheitsbildes weiter untersucht werden, um die Therapie zu verbessern und zu personalisieren.

Die Autorin

Ellen Wölk
Charité Zentrum für Innere Medizin und Dermatologie, Klinik für Psychosomatik
Charité – Universitätsmedizin Berlin

Der Autor

Prof. Dr. med. Andreas Stengel
Oberarzt Medizinische Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Tübingen

andreas.stengel@med.uni-tuebingen.de

Literatur bei den Autoren

Bildnachweis: Eraxion (iStockphoto); privat

Lesen Sie mehr und loggen Sie sich jetzt mit Ihrem DocCheck-Daten ein.
Der weitere Inhalt ist Fachkreisen vorbehalten. Bitte authentifizieren Sie sich mittels DocCheck.
- Anzeige -

Das könnte Sie auch interessieren

123-nicht-eingeloggt