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Onkologie

Außenseitermethoden und Alternativmedizin

Querdenken in der Onkologie

Prof. Dr. med. Karsten Münstedt, Dr. med. Heidrun Männle, Dr. med. Birthe Osorio

Auch in der Onkologie gibt es Methoden, die sich im Randbereich der klassischen Medizin befinden. Manche sind dem alternativmedizinischen Mainstream zuzuordnen, andere eher Außenseitermethoden. Dieser Beitrag versucht, Sinn und Unsinn solcher Methoden auch aus der psychologischen Sicht zu betrachten.

In den 1980er-Jahren hat man alles außerhalb der Schulmedizin noch gerne als Außenseitermethoden abgetan. Mitunter zählte man damals auch noch heute etablierte Methoden wie die allogene Stammzelltransplantation dazu. Aber natürlich auch Methoden, die längst in der Mottenkiste verschwunden sind. Aktuell wird der Ausdruck kaum noch verwendet, trotzdem lohnt die Frage: Was sind Außenseitermethoden eigentlich? Der Terminus Außenseitermethoden war a priori nicht abwertend gemeint. Als Außenseiter bezeichnet man Menschen oder Gruppen, die einer sozialen Gemeinschaft zwar zugehören, in dieser aber nicht voll integriert sind. Außenseitermethoden in der Onkologie wären demnach Methoden, die in den Randbereichen der klassischen Medizin anzusiedeln sind, sich aber durchaus in derem erkenntnistheoretischen, wissenschaftlichen und berufspraktischen Bezugsfeld bewegen. Die folgende Definition stammt aus dem Jahr 1997: „Ärzte, die Außenseitertherapien verwenden und die an den Nutzen ihrer Verfahren glauben, ohne dass ihre finanziellen Interessen im Vordergrund stehen, (…) mit einem positiven Beiklang auch als Querdenker bezeichnet werden. Sie zwingen die Schulmedizin zur Überprüfung der pathophysiologischen Basis ihrer Therapien und zur kritischen Bewertung ihrer Erfolge und Misserfolge. Gefährlich werden sie allerdings, wenn sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung verweigern und ihre Ideen ohne Rücksicht auf gesicherte Erfahrungen – und damit ohne Rücksicht auf die betroffenen Kranken – durchsetzen.“[1] Letztlich erweist sich der Begriff aber als schlecht definiert – das hat er mit den Begrifflichkeiten von alternativer, komplementärer und integrativer Medizin gemein, für die allesamt keine verbindlichen Definitionen existieren. Grenzt man den Begriff auf solche Methoden ein, die einen rationalen Hintergrund haben und sich durch empirische Verfahren prüfen lassen, deren Konzepte aber noch nicht überprüft wurden, bleiben Homöopathie, Anthroposophie u. a. außen vor. Denn diese Methoden haben vielfach keinen naturwissenschaftlichen Hintergrund. Außenseitermethoden wären damit aber auch Methoden, die grundsätzlich geeignet sind, einmal Teil der Schulmedizin zu werden.


Klassische = überprüfbare Medizin

Für die klassische Medizin gilt, dass jede therapeutische Intervention vor dem Hintergrund des aktuellen Erkenntnisstandes auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft werden muss. In Zeiten, da sich das Wissen der Menschheit in wenigen Jahren verdoppelt, ein mitunter schwer zu erfüllender Anspruch. Schon Jakob Johann Baron von Uexküll wusste vor mehr als 100 Jahren: „Die Wissenschaft von heute ist der Irrtum von morgen.“ Dieser Wandel des Wissens lässt sich gut an einem Beispiel illustrieren: Denkt man an die Behandlung des Mammakarzinoms vor rund 50 Jahren, so war damals die Radikaloperation nach Rotter-Halsted der Standard. Heute können sich Medizinstudenten kaum vorstellen, dass man damals nicht nur die Brust, sondern auch die Brustmuskeln (M. pectoralis major und minor) und alle Lymphknoten in den Levels 1–3 entfernt hat. Nach den aktuellen Leitlinien gelten die brusterhaltende Operation und die Sentinel-Lymphonodektomie als Standard. Aber in der INSEMA-Studie wird bereits geprüft, bei welcher Frau sich auf die Entfernung der Wächterlymphknoten ganz verzichten lässt, um den Eingriff möglichst schonend durchzuführen. Und vor dem Hintergrund, dass sich durch erste Studien zum fokussierten Ultraschall bei Brustkrebs gute Ergebnisse ergeben haben oder sich durch primäre (neoadjuvante) Chemotherapie in bestimmten Subgruppen (z. B. ER, PR-, HER2+) in den meisten Fällen histopathologische Komplettremissionen zeigen, stehen Brustoperation und die Sentinel-Lymphonodektomie in Zukunft möglicherweise komplett zur Diskussion.[2] Der unmittelbare Nutzen neuer Entwicklungen für die Patienten lässt sich in der Onkologie besonders deutlich erkennen. Wo es vor Jahren kaum Hoffnung für Krebspatienten gab, versprechen zielgerichtete Therapien und Immuntherapien, die Tumorzellen direkt anzugreifen. Damit lassen sich erhebliche Verlängerungen von progressionsfreiem und Gesamtüberleben realisieren, vielleicht sogar in einigen Fällen Komplettremissionen. Manche Vordenker dieser Prozesse waren einmal Außenseiter mit ihren innovativen Konzepten. Umgekehrt sind aber nur die wenigsten Methoden der gegenwärtigen Außenseitermedizin geeignet, neue Standards in der klassischen Medizin zu setzen. Die Vorstellung, dass nichts wirklich gewiss ist, ist für viele keine angenehme Vorstellung – auch für uns Ärzte nicht. In der Tat ist Ungewissheit etwas, dass die meisten Menschen zutiefst verängstigt. Analysen zeigen, dass dieser Faktor auch eine Rolle bei der Anwendung komplementärer und alternativer Methoden spielt.[3] Und so wundert es nicht, dass im Bereich der komplementären und alternativen Medizin dogmatische Konzepte dominieren, deren Gültigkeit in Jahrzehnten, Jahrhunderten und sogar Jahrtausenden nicht infrage gestellt werden und so eine Sicherheit vermitteln – sehr oft aber leider auch nur Scheinwahrheit und Scheinwissen.


Beurteilung von Außenseitermethoden

Bei rationaler Betrachtung der Situation sollte man erwarten, dass das Angebot wenig sinnvoller Behandlungsmethoden in unserer Wissens-Zeit zurückgeht. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Studien aus aller Welt zeigen, dass die Angebote und die Akzeptanz der komplementären, alternativen oder integrativen Medizin steigen. Und man fragt sich: Wie kommt es zu positiven Erfahrungen mit Außenseitermethoden? Und warum lassen sich viele Patienten auf solche Methoden ein? Eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf diese wichtigen Fragen würde eine gezielte Forschung und damit eine klare Definition voraussetzen. Da aber Außenseitern die allgemeine Akzeptanz ihrer Konzepte meist versagt ist, haben sie eher regionale Bedeutung. Beispielsweise hat die in Italien früher verbreitete Di-Bella-Multitherapie in anderen Ländern keinen vergleichbaren Zuspruch erfahren. Und betrachtet man die zuletzt viel diskutierte Methadontherapie, hat man den Eindruck, dass deren Akzeptanz unter dem Einfluss der Medien steigt (siehe Kasten). In der Vergangenheit wurden auf verschiedenen Ebenen Bemühungen unternommen, die Effizienz von Außenseitermethoden zu beurteilen. Obwohl zu einer Vielzahl der Methoden keine oder nur In-vitro-Evidenz existiert, gibt es zahlreiche Studien, die sehr wohl eine Beurteilung einzelner Methoden erlauben. Allerdings haben selbst negative Ergebnisse von Metaanalysen nicht dazu geführt, dass die entsprechenden Methoden nicht mehr angewendet werden. Als Beispiele können Vitamin B17 / Amygdalin oder hoch dosiertes Vitamin C gelten. Diese Methoden haben nachweislich keinen positiven Effekt. Trotzdem lassen sich Patienten, Heilpraktiker und Alternativmediziner nicht von wissenschaftlichen Fakten und rationalen Überlegungen überzeugen. In einer jüngeren Studie konnte gezeigt werden, dass Patientinnen ihre Therapieentscheidungen beibehalten, auch wenn sie Informationen über Kosten, Wirksamkeit und Sicherheit erhalten.[4] In dieser Studie konnte die Vertrautheit mit einer Methode als psychologischer Faktor identifiziert werden, der über die Anwendungswahrscheinlichkeit entschied.


Selbstüberschätzung und mehr

Die beiden Forscher David Dunning und Justin Kruger von der Cornell University entwickelten 1999 ein Modell, nach dem schwache Leistungen mit größerer Selbstüberschätzung einhergehen als stärkere Leistungen.[5] Dunning und Kruger fanden einen interessanten Kurvenverlauf zwischen Selbstvertrauen und Kompetenz (s. Abb.). Danach neigen Menschen bereits bei wenig Wissen zu einer Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und entwickeln ein enormes Selbstvertrauen. In diesem Stadium verharren die Protagonisten der Außenseitermethoden und sind damit in der Lage, mit gutem Gewissen medizinische Ratschläge zu geben und diese zu vertreten. Sie müssen auch in diesem Zustand verharren, denn mit zunehmender Einsicht in die Komplexität der Materie würde ihr Selbstvertrauen sinken und erst wieder steigen, wenn erhebliche Kenntnisse vorliegen. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Tatsache, dass echte Experten kaum das Selbstvertrauen von Personen mit geringen Kenntnissen erreichen. Heute versteht man unter dem Dunning-Kruger-Effekt die systematische fehlerhafte Neigung relativ inkompetenter Menschen,

• ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen,

• das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht zu erkennen,

• ihre eigene Kompetenz nicht zu steigern und

• überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen.

In diesem Zusammenhang spielt die „Selbstwertdienliche Verzerrung“ (self-serving bias) eine wichtige Rolle. Die Sozialpsychologie versteht darunter eine Tendenz, dass Erfolge inneren Ursachen (eigene Fähigkeiten und eigene Fertigkeiten) zugeschrieben werden, während bei Misserfolgen eher äußere Ursachen (besondere Umstände, ein ungünstiger Zufall) verantwortlich gemacht werden. Ein Umstand, der sich leider in den politischen Diskussionen unserer Zeit jeden Tag neu bewahrheitet. In der Medizin bedeutet das: Schon eine positive Erfahrung reicht aus, um eine Methode zu akzeptieren. Andere Fälle, die weniger günstig verlaufen, werden auf äußere Umstände wie Schulmedizin oder Schwere der Erkrankung zurückgeführt. Menschen, bei denen die „selbstwertdienliche Verzerrung“ besonders ausgeprägt ist, glauben häufiger an Paranormales und Übersinnliches oder haben starke traditionelle religiöse Überzeugungen.[6] Übersteigertes Selbstvertrauen (Overconfidence) ist dagegen nicht nur ein Problem der Außenseitermethoden, sondern spielt auch in der klassischen Medizin eine Rolle – etwa wenn es um fehlerhafte Diagnostik und Therapie geht.[7]

Fazit

Unter dem Begriff Außenseitermethoden werden Methoden verstanden, die sich im Randbereich der klassischen Medizin und des komplementär- und alternativmedizinischen Mainstreams befinden. Um solche Außenseitermedizin verstehen zu können, sind psychologische Effekte, wie der Dunning-Kruger-Effekt, die „Selbstwertdienliche Verzerrung“ und das „cognitive debiasing” hilfreich.

Der Autor

Prof. Dr. med. Karsten Münstedt
Ortenau Klinikum
Offenburg-Gengenbach
Frauenklinik

karsten.muenstedt@web.de

Die Autorin

Dr. med. Heidrun Männle
Ortenau Klinikum
Offenburg-Gengenbach
Frauenklinik

heidrun.maennle@ortenau-klinikum.de

Die Autorin

Dr. med. Birthe Osorio
Ortenau Klinikum
Offenburg-Gengenbach
Frauenklinik

birthe.osorio@ortenau-klinikum.de

[1] Außenseitermethoden in der Onkologie. Arzneimittelbrief 1997; 31: 33
[2] Merckel LG et al., Eur Radiol 2016; 26: 4037–4046
[3] Montazeri A et al., Eur J Cancer Care 2007; 16: 144–149
[4] Münstedt K et al., Complement Ther Med 2019; 45: 1–6
[5] Kruger J et al., J Pers Social Psychol 1999; 77: 1121–1134
[6] van Elk M, Conscious Cogn 2017; 49: 313–321
[7] Berner ES et al., Am J Med 2008; 121(5 Suppl): S2–23
[8] Hübner J et al., Dtsch Ärztebl 2017; 114: A-1530 / B-1298 / C-1269
[9] Gießelmann K, Dtsch Ärztebl 2017; 114: A-1505 / B-1273 / C-1247

Bildnachweis: Scar1984 (iStockphoto); privat

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