Orthorexie beschreibt eine zwanghafte Fixierung auf eine gesunde Ernährungsweise. Ist dieses Verhalten durch stark ausgeprägte, rigide Maßnahmen hinsichtlich der Auswahl für subjektiv empfundene gesunde Lebensmittel gekennzeichnet, birgt es die Gefahr negativer gesundheitlicher Konsequenzen wie Mangelernährung, Untergewicht und andere funktionelle Beeinträchtigungen.
Den Begriff „Orthorexie“ (Orthorexia nervosa, ON) führte Ende der 90er-Jahre Steven Bratman ein.[1] Die ON beschreibt ein Essverhalten, welches durch eine nahezu pathologische Fixierung auf gesunde Ernährung gekennzeichnet ist. Die Betroffenen versuchen, in einem übertriebenen Verhalten vermeintlich subjektiv ungesunde oder schädliche Lebensmittel zu vermeiden. Die Auswahl der Lebensmittel erfolgt vor allem nach dem Kriterium „gesund“, weitere Motive wie Geschmack, Geruch, Geselligkeit rücken in den Hintergrund.
Häufig steht am Anfang der ON einfach der Wunsch, seine Gesundheit zu optimieren. Aber auch Lebensmittelunverträglichkeiten oder die Bewältigung von chronischen Erkrankungen kann zu orthorektischem Essverhalten führen. Studien konnten zudem zeigen, dass Vegetarier deutlich anfälliger sind, eine ON zu entwickeln.[2] Das Weglassen einzelner Lebensmittel, z. B. Haushaltszucker, Süßigkeiten oder Snacks, muss nicht gleich in einem zwanghaften Essverhalten münden – insbesondere, wenn die Personen anerkannten Ernährungsempfehlungen folgen. Problematisch wird es, wenn die Verhaltensweisen zu einseitig und rigide werden, sodass die Ausgewogenheit und Vielfältigkeit der Ernährung nicht mehr gewährleistet ist. Häufig ist das Verhalten auch von ideologischen Überzeugungen geprägt, sodass es bei Nichteinhalten der Ernährungsregeln zu einer Selbstbestrafung kommen kann.
Die Vorstellung, immer „gesund essen zu müssen“, hat eine so hohe Bedeutung, dass andere Lebensbereiche meist vernachlässigt werden.
Potenziell sind verschiedene gesundheitliche Konsequenzen denkbar, wie eine Risikoerhöhung für Mangelernährung, funktionelle Beeinträchtigungen (z. B. eine verringerte Leistungsfähigkeit etc.), eine psychische Unausgeglichenheit oder auch eine Essstörung. Diese in Studien beobachteten Folgen verdeutlichen die klinische Relevanz und die Notwendigkeit einer Behandlung. Es herrscht jedoch kein wissenschaftlicher Konsens, ob die ON als eigenständiges Krankheitsbild (als Essstörung) oder lediglich als eine Vorstufe für Essstörungen oder Zwangsstörungen angesehen werden kann.[3] Die beobachteten Verhaltensweisen und die potenziellen gesundheitlichen Komplikationen der ON lassen vermuten, dass eine Essstörung ähnlich der bekannten Anorexia nervosa (AN) oder der Bulimia nervosa (BN) vorliegt. Eine Abgrenzung von diesen Störungen ist denkbar, da die Motive für das Verhalten unterschiedlich sind. Geht es den Patienten mit AN oder BN vor allem um die Quantität der Nahrung und das körperliche Erscheinungsbild, so besteht bei der ON das Motiv der Gesundheit, ausgeprägt durch eine sehr bewusste Lebensmittelauswahl, die die Qualität der Lebensmittel in den Vordergrund rückt.[3,4] Bisher wurde die ON noch nicht als eigenständige Störung anerkannt und daher auch nicht als diagnostische Einheit in das DSM-5 oder ICD-11 aufgenommen.
Eine Diagnosestellung der ON ist zurzeit nicht zuverlässig möglich, da allgemeingültige Diagnosekriterien zur Abgrenzung von den symptomähnlichen Krankheitsbildern wie Essstörungen, aber auch Zwangsstörungen nicht vorliegen. Zur Erfassung der ON wurden in den vergangenen 20 Jahren verschiedene Instrumente publiziert, der Orthorexia-Test (BOT)5, der ORTO-15, der auch in einer deutschen Version vorliegt,[6] der Eating Habits Questionnaire (EHQ)[7] oder auch die Düsseldorfer Orthorexie Skala (DOS)[8]. Bisher konnte sich jedoch keines der Instrumente als valide für die Diagnosestellung durchsetzen. In der Publikation eines weiteren Fragebogens (Orthorexia Nervosa Inventory, ONI) in diesem Jahr, hoben die Autoren vier in der Literatur konsistente Diagnosekriterien hervor[9]: Es besteht die zwanghafte Verhaltensweise sich mit gesunder Ernährung zu beschäftigen, wozu die strikte Befolgung einer restriktiven gesunden Ernährung mit strikter Vermeidung von ungesunden Lebensmitteln gehört. Es treten Verstöße gegen die selbstauferlegten restriktiven Speisevorschriften auf, die zu extremer emotionaler Belastung mit Gefühlen von Schuld, Scham und/oder Angst führen. Es lassen sich körperliche Beeinträchtigungen beobachten: der Nährstoffmangel kann zu erheblichem Gewichtsverlust, Unterernährung und/oder körperlichen Gesundheitskomplikationen führen.
Es kommt zu psychosozialen Beeinträchtigungen im sozialen, beruflichen und/oder akademischen/schulischen Bereich, die als Folge der vorherigen Kriterien auftreten können. Mit dem ONI steht nun ein weiterentwickeltes Instrument zur Verfügung, das in einer ersten Überprüfung als valide angesehen werden kann. Ob es tatsächlich für eine zuverlässige Diagnosestellung eingesetzt werden kann, ist zurzeit noch nicht ausreichend geprüft.[9]
Eine Therapie von othorektischen Patienten ist meistens schwierig, zumal oft die Einsicht für ein krankhaftes Verhalten fehlt. Da insgesamt bei dieser Störung noch sehr viele Unklarheiten bestehen, ist auch eine einheitliche Therapie noch nicht vorhanden. Es erscheint aber sinnvoll, eine Anlehnung an Therapien für Ess- und Zwangsstörungen zu empfehlen. Demnach sollten Psychotherapie und Ernährungstherapie Bestandteil der Behandlung sein. Zudem ist eine interdisziplinäre Herangehensweise zu empfehlen.
Die Autorin
Prof. Dr. Sibylle Adam
Fakultät Life Sciences
Department Ökotrophologie der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg
1 Bratman S, Yoga J 1997; (September/October): 42–50
2 Brytek-Matera A, Eat Weight Disord – Stud Anorex Bulim Obes 2019; doi: 10.1007/s40519-019-00816-3
3 Strahler J, Psychother J 2018; 17(1): 20–26
4 Moroze RM, Dunn TM, Craig Holland J et al., Psychosomatics 2015; 56(4): 397–403, doi: 10.1016/j.psym.2014.03.003
5 Bratman S, Knight D, Health Food Junkies: Orthorexia Nervosa – Overcoming the Obsession with Healthful Eating. New York: Broadway Books; 2000
6 Missbach B, Hinterbuchinger B, Dreiseitl V et al., PLOS ONE 2015; 10(8): e0135772, doi: 10.1371/journal.pone.0135772
7 Gleaves DH, Graham EC, Ambwani S, He Int J Educ Psychol Assess 2013; 12(2): 1–18
8 Barthels F, Pietrowsky R, PPmP – Psychother · Psychosom · Med Psychol 2012; 62(12): 445–449, doi: 10.1055/s-0032-1312630
9 Oberle CD, De Nadai AS, Madrid AL, Eat Weight Disord-Stud Anorex Bulim Obes, April 2020; doi: 10.1007/s40519-020-00896-6
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