Die erste klinische Konsenserklärung der European Society of Cardiology (ESC) zu Adipositas und kardiovaskulären Erkrankungen wurde während des ESC-Kongresses August 2024 in London im „European Heart Journal“ veröffentlicht. Die neue Erklärung behandelt das komplexe Zusammenspiel zwischen Adipositas, verschiedenen kardiovaskulären Risikofaktoren und Manifestationen kardiovaskulärer Erkrankungen. Obwohl der langfristigen Aufrechterhaltung eines gesunden Körpergewichts bei Personen ohne kardiovaskuläre Erkrankungen große Bedeutung beigemessen wird, liegt der Hauptfokus der Veröffentlichung auf dem Management der Adipositas bei Personen mit bereits bestehenden kardiovaskulären Erkrankungen.
Adipositas stellt eine wachsende Herausforderung dar, weil jeder sechste EU-Bürger als fettleibig gilt und mehr als die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig ist. Adipöse Menschen haben ein um 50-100 % höheres Sterberisiko (alle Ursachen) als Normalgewichtige, wobei der größte Teil des erhöhten Risikos auf kardiovaskuläre Erkrankungen zurückzuführen ist, stellt die ESC in dem Konsensusstatement fest.
Die zunehmende Adipositas-Epidemie ist primär auf ein immer adipogeneres Umfeld zurückzuführen, weshalb Strategien zur Reduktion der Adipositas sowohl individuelle Maßnahmen als auch Veränderungen in der Gesellschaft und der Umwelt erfordern, so die Autorengruppe des ESC-Statements. Es besteht ein dringender Bedarf an bevölkerungsweiten öffentlichen Gesundheitsinterventionen auf Ebene von Regierung, Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft, wobei alle im Gesundheitswesen Tätigen involviert sein sollten. Besonders wichtig ist die Prävention von Adipositas bereits im Kindesalter, da das Risiko für kardiovaskuläre und nicht-kardiovaskuläre Komplikationen nicht nur vom Ausmaß, sondern auch von der Dauer der Adipositas abhängt.
Einsatz von Pharmakotherapien
Die Entwicklung von Medikamenten zur Gewichtsreduktion mit nachgewiesenem kardiovaskulären Nutzen (Inkretinmimetika) stellt einen wichtigen Fortschritt dar. Jedoch ist der Einsatz solcher Pharmakotherapien aufgrund hoher Kosten und des Risikos, soziale Ungleichheiten zu verschärfen, begrenzt. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass der erreichte Gewichtsverlust und die kardiometabolischen Vorteile nur bei anhaltender Therapie bestehen, wobei nach Absetzen von Semaglutid oder Tirzepatid ein erheblicher Teil des Gewichts (50-66 %) innerhalb eines Jahres wieder zurückgewonnen wird. Aufgrund der wachsenden Nachfrage und des derzeitigen Mangels an Medikamenten sollten Off-Label-Verschreibungen von Anti-Adipositas-Medikamenten und antidiabetischen Medikamenten zur Gewichtsreduktion vermieden werden.
Ärzte und Ärztinnen, insbesondere Kardiologen, können einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Adipositas leisten, indem sie proaktiv in der Prävention und Behandlung von Adipositas tätig werden. Zunächst sollte das kardiovaskuläre Risiko von Adipositas regelmäßig kommuniziert und das lebenslange Einhalten eines gesunden Lebensstils betont werden. Des Weiteren muss Adipositas als kausaler Faktor in die routinemäßige Risikoabschätzung und Behandlungsführung integriert werden. Schwerpunkt sollte auf der Primärprävention (Erhaltung eines gesunden Körpergewichts und Vermeidung von Gewichtszunahme) und der Behandlung von Personen ohne etablierte kardiovaskuläre Erkrankungen liegen. Bei adipösen Patienten und Patienten mit etablierter kardiovaskulärer Erkrankung bleibt das Gewichtsmanagement wichtig, um Symptome und Begleiterkrankungen zu verbessern.
Die Behandlung von Adipositas sollte im Sinne eines Paradigmenwechsel als chronische Erkrankung mit kombinierten Strategien verstanden werden, die Lebensstilinterventionen, Pharmakotherapie und chirurgische Verfahren integrieren. Zugang zu verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten ermöglicht einen patientenzentrierten Ansatz, da adipöse Menschen eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen metabolischen und kardiovaskulären Risikoprofilen darstellen. Kardiologen sollten den Zugang zu strukturierten Anti-Adipositas-Programmen und, wo angezeigt, zu chirurgischen Eingriffen sowie zu neuen Pharmakotherapien fördern. Dabei sollten Lebensstilinterventionen stets als Erstlinientherapie für die Prävention und Reduktion von Gewicht betrachtet werden, da deren Effekte additiv zu pharmakologischen Behandlungen wirken. Langfristige Einhaltung eines gesunden Lebensstils bleibt entscheidend, um die positiven Effekte der Therapie zu unterstützen und zu erhalten.