Die Ausschüsse für neuartige Therapien (CAT) und Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur EMA haben das Gentherapeutikum Valoctocogene Roxaparvovec zur Zulassung empfohlen. Damit wäre das Medikament zur Behandlung der Hämophilie A das erste Gentherapeutikum in der EU.
Die finale Entscheidung über die Zulassung trifft die Europäische Kommission. Die Behandlung der Hämophilie A gehört seit Jahrzehnten zu den teuersten Versorgungsbereichen der Medizin, besonders bei jenen Patienten die unter der Faktor VIII-Substitution wirkungslimitierende Antikörper gegen Faktor VIII entwickeln („Hemmkörper“). Valoctocogene Roxaparvovec ist die erste Gentherapie zur Behandlung der Hämophilie A in der EU-Zulassung. Der Wirkstoff in Valoctocogene Roxaparvovec ist ein AAV-Vektor (vermehrungsunfähiges Adeno-assoziiertes Virus), das sich im Menschen nicht vermehrt und das Gen mit dem Bauplan für die Bildung des Faktor-VIII-Blutgerinnungsproteins auf einige wenige Körperzellen überträgt. Die Gentherapie zielt darauf ab, nach einmaliger intravenöser Gabe das Faktor-VIII-Gen in einige Leberzellen eines Patienten einzubringen, um so eine funktionsfähige Kopie des Gerinnungsfaktors zur Verfügung zu stellen. Dies trägt dazu bei, dass Blutungen verhindert oder Blutungsepisoden verringert werden (vor allem chronische Hämarthrosen und dadurch bedingte, oft inflammatorische Gelenkschäden limitieren Lebensqualität und Lebenserwartung bei nicht oder suboptimal behandelten Patienten mit Hämophilie A).
Das vom CAT empfohlene Anwendungsgebiet ist die Behandlung von Patienten mit schwerer Hämophilie A, die keine Faktor-VIII-Hemmkörper aufgrund bisheriger Faktor-VIII-Substitutionstherapie haben und keine Antikörper gegen AAV des Serotyps 5 haben, zu dem der in der Gentherapie verwendete AAV-Vektor gehört. Es ist noch nicht bekannt, wie lange der Behandlungseffekt bei einem einzelnen Patienten anhalten wird. Allerdings wurde bei der Mehrzahl der 134 in der Phase-3-Prüfung behandelten Patienten zwei Jahre nach Gentherapie eine deutliche Verringerung der Blutungen und des Verbrauchs von Gerinnungsfaktoren im Vergleich zum Vorbehandlungszeitraum beobachtet. Bei einigen Patienten wurde im Rahmen der klinischen Prüfung ein positiver Behandlungseffekt von bis zu fünf Jahren nach einer einzigen Infusion festgestellt.
Die Zulassungsempfehlung des CAT stützt sich auf die Ergebnisse einer einarmigen, nicht randomisierten Phase-3-Prüfung an 134 männlichen Patienten mit Hämophilie A ohne Faktor-VIII-Inhibitor in der Vorgeschichte und ohne Antikörper gegen AAV 5. Zwei Jahre nach der Verabreichung zeigten die Wirksamkeitsdaten, dass es bei der Mehrzahl der Patienten nach intravenöser Vektor-Infusion zu einem Anstieg des Faktor-VIII-Spiegels im Blut kam. Die Blutungsraten gingen um 85% zurück und die meisten Patienten (128) benötigten keine Faktor-VIII-Ersatztherapie mehr.
Eine Erhöhung der Leberwerte ist eine aus klinischen Studien bekannte häufige Nebenwirkung von AAV-basierten Gentherapien. Ein Anstieg des Leberenzyms Alanin-Aminotransferase (ALT) zeigt eine beginnende Leberschädigung an und wurde nach Infusion von Valoctocogene Roxaparvovec beobachtet. Sie kann erfolgreich mit Kortikosteroiden behandelt werden. Patienten mit Lebererkrankungen sollen nicht mit Roctavian behandelt werden. Weitere häufige und vorübergehende Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und Übelkeit. Um beurteilen zu können, wie lange die Wirkung der Gentherapie anhält und ob zusätzliche unerwünschte Wirkungen auftreten, hat der CAT eine Nachbeobachtung der Patienten über 15 Jahre festgelegt.
Pressemitteilung Paul-Ehrlich-Institut, Juni 2022
Ozelo MC et al.; N Engl J Med. 2022 Mar 17;386(11):1013-1025 (DOI 10.1056/NEJMoa2113708).
Pressemitteilung European Medicines Agency (EMA), Juni 2022