Nur wenige Tag nach dem Erscheinen der „2023 ESH Guidelines for the Management of Arterial Hypertension“ wurde nun die Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Hypertonie publiziert. Ähnlich wie die ESH-Leitlinie ziele die NVL auf die Vermeidung von Endorganschäden ab, auch wenn der diastolische Zielwert der NVL etwas über dem der ESH liegt, so die Deutsche Hochdruckliga (DHL). Die DHL begrüßt darüber hinaus die Empfehlungen der NVL zum Umgang mit hypertensiven Entgleisungen in der Praxis: Zunächst sollte auf Präparate gesetzt werden, die den Blutdruck langsam absenken.
Der Zielwert für Patienten mit Hypertonie, den die NVL angibt, beträgt <140/90 mmHg. „Ebenso wie die Leitlinie der ESH gibt die NVL dadurch Spielraum für eine patientenindividuelle Therapie“, erklärt Prof. Dr. med. Markus van der Giet (Berlin), Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga. „Beide Leitlinien führen aus, dass bei jüngeren Menschen oder solchen mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko und auch bei Menschen, die eine striktere Einstellung tolerieren, eine Einstellung auf niedrigere Werte erfolgen sollte. Die Untergrenze definieren beide Leitlinien mit 120/70 mmHg.“
Praxisnaher Ansatz durch weniger strenge Blutdruckziele
Der Internist bewertet die variablen und individualisierbaren Blutdruckziele beider Leitlinien, die einen praxisnahen Ansatz widerspiegeln, positiv, denn oft sei es schon schwierig genug, den Blutdruck der Patienten auf Werte unter 140/90 mmHg zu senken. „Striktere Werte und der damit verbundene Druck auf die Ärztinnen und Ärzte, die Betroffenen darauf einzustellen, führen im Endeffekt nur zu einer hohen Rate an Therapieabbrüchen. Mit der Einstellung auf unter 140/90 mmHg ist das kardiovaskuläre Risiko der Patientinnen und Patienten allerdings schon signifikant gesenkt und dieser Wert kann von den meisten problemlos erreicht werden.“ Im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung, bei der die Patienten eingebunden werden sollen, können dann laut NVL individuell niedrigere Zielwerte verabredet werden. „Die Einbindung der Patientinnen und Patienten in diesem Prozess ist entscheidend für die spätere Adhärenz“, erläutert van der Giet.
Beim Vergleich der Zielwerte beider Leitlinien fällt allerdings eine Diskrepanz um 10 mmHg beim diastolischen Zielwert auf: Die NVL definiert 90, die ESH 80 mmHg. Prof. Dr. med. Oliver Vonend (Wiesbaden), Mitglied im Vorstand der Deutschen Hochdruckliga, hält diesen Unterschied für wenig praxisrelevant – das Entscheidende für die kardiovaskuläre Risikosenkung sei der systolische Wert. Der Unterschied erkläre sich dadurch, dass die ESH-Leitlinie unter Beteiligung der internationalen nephrologischen Fachgesellschaften entstanden sei und ein erhöhter diastolischer Wert häufiger mit dem Vorliegen einer Nierenerkrankung assoziiert sei.
Nierenscreening auch bei nierengesunden Hypertonikern
Eine etwas stärkere Hinwendung zur Niere wird in der europäischen Leitlinien auch bei der Abklärung der Endorganschäden bei Erstdiagnose der Hypertonie sichtbar. Beide Leitlinien legen großen Wert darauf, umfassend auf Endorganschäden zu screenen. Im Hinblick auf die Niere empfiehlt die ESH-Leitlinie bei allen Patienten mit Hypertonie neben Erfassung der eGFR auch die Albuminuriemessung. Die neue NVL Hypertonie empfiehlt diese Urinuntersuchung ebenfalls – obligat bei Patienten mit Hypertonie und gleichzeitig bestehender chronischer Nierenkrankheit (CKD). Bei Nierengesunden mit Bluthochdruck wird die Analyse der Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio jedoch auch empfohlen – hier allerdings in etwas geringerer Empfehlungsstärke („sollte“ statt „soll“). „Das sind Nuancen in den Empfehlungen und wir verstehen beide Leitlinien als synergistisch. Die NVL beschreibt die ‚Pflicht‘, die ESH-Leitlinie die ‚Kür‘“, resümiert van der Giet.
„Nicht jede hypertensive Entgleisung ist ein Notfall“
Vonend befürwortet zudem als praxisrelevanten Mehrwert der NVL die Empfehlungen zum Umgang mit hypertensiven Entgleisungen. „Es ist wichtig, dass bei Werten über 180/110 mmHg ohne akute Begleitsymptome oder Vorliegen einer bekannten Endorganschädigung keine sofortige Krankenhauseinweisung erforderlich ist und auch keine kurzwirksamen sublingualen Medikamente verabreicht werden sollen. Denn nicht jede Entgleisung ist ein Notfall.“ Stattdessen laute die Empfehlung: Zuwarten, den/die Betroffene/n hinlegen und nach 30 Minuten eine weitere Kontrollmessung durchführen. Die orale Gabe der langwirksamen antihypertensiven Medikation wird hier empfohlen. Die Dauermedikation kann entsprechend angepasst werden. „So können viele unnötige Einweisungen vermieden werden.“
Hintergrund: Das Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien (NVL) ist eine gemeinsame Initiative von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zur Qualitätsförderung in der Medizin. Ihr Ziel ist die Vernetzung medizinischer Leistungen in übergreifenden Versorgungsformen, sie werden interdisziplinär und evidenzbasiert erstellt und entsprechend der Leitlinien-Entwicklungsstufe S3. Derzeit gibt es acht NVL zu hochprävalenten chronischen Erkrankungen, jetzt auch zur Hypertonie.
Pressemitteilung „Die Nationale Versorgungsleitlinie Hypertonie ist ‚Pflicht‘, die ESH-Leitlinie die ‚Kür‘“. Deutsche Hochdruckliga e.V. DHL - Deutsche Gesellschaft für Hypertonie und Prävention, Heidelberg, 5.7.2023 (https://www.hochdruckliga.de/pressemitteilung/nvl-pm-20230705-2).
* Nationale Versorgungsleitlinie Hypertonie (2023). Abrufbar unter https://www.leitlinien.de/themen/hypertonie. Es stehen auch ergänzende, hilfreiche Informationen für Patienten zur Verfügung.