Warum die Gewichtsreduktion bei adipösen Patienten oft nur temporär ist, hat der Ernährungswissenschaftler Professor Dr. W. Timothy Garvey von der Universität Alabama in einem Review der Set-Point-Theorie zusammengefasst.
Adipositas und die assoziierten Erkrankungen erfordern eine lebenslange Behandlung und Nachsorge. Die Adipositas schützt sich durch eine veränderte Regulation der Kalorienaufnahme und Sollwertmechanismen selbst, was dazu beiträgt, ein hohes Körpergewicht dauerhaft aufrechtzuerhalten. Das Verständnis dieser Set-Point-Theorie und des postulierten Gewichtsregulators „Ponderostat“ (Cabanac et al. 1971; Nisbett 1972) zeigt, warum die Wirkung von Lebensstilmodifikationen oder Antiadipositas-Medikamenten unbefriedigend bleibt: Sie verändern den Sollwert nicht dauerhaft, weshalb die Gewichtsreduktion nur von kurzer Dauer ist. Folglich kommt es nach dem Ende der Intervention(en) wieder zu einer Gewichtszunahme.
Allerdings gibt es eine bemerkenswerte therapeutische Ausnahme: Mit bestimmten bariatrischen Operationen (Schlauchmagen/Sleeve-Gastrektomie, Magenbypass) kann unter anderem der Appetit der Patienten und - über bislang noch unbekannte Mechanismen - der „Sollwert“ des Ponderostaten und damit das durchschnittliche Körpergewicht von adipösen Patienten auf ein neues niedriges Gleichgewicht eingestellt werden.
Bariatrische Chirurgie nicht kurativ
Ein Unterschied zu Adipositas-Interventionen fällt besonders auf, so Garvey: Patienten haben nach einer bariatrischen Operation weniger Hunger. Dies steht im Gegensatz zur Gewichtsreduktion durch Lebensstilinterventionen, bei der neurohormonale maladaptive Mechanismen aktiviert werden, die den Hunger steigern und die Gewichtszunahme fördern. Dass dies nach einer bariatrischen Operation nicht routinemäßig aufritt, deutet darauf hin, dass operativ der Sollwert verändert wurde, mit dem Sättigungshormone die Kalorienaufnahme regulieren. Über welche der vielen denkbaren Mechanismen der Gewichtsverlust letztlich initiiert wird, ist bislang völlig ungeklärt (obwohl diese Wirkung schon Theodor Billroth vor über 100 Jahren als eine Komplikation der von ihm vorgeschlagenen Magen(teil)resektionen aufgefallen war).
Garvey schränkt, entsprechend den Erfahrungen der bariatrischen Chirurgie, ein, dass das Herunterregeln des Ponderostaten nach einer Übergewichts-Operation nur vorübergehend oder unvollständig sein kann. So erreichen die meisten Patienten zwar eine stabile Gewichtsreduktion, die aber im BMI-Bereich von Übergewicht oder Adipositas bleibt. Bekannt ist auch, dass viele Patienten trotz des invasiven Eingriffs wieder zunehmen. Allerdings liegt dem, so Garvey, vermutlich eher ein dysfunktionales, gestörtes Essverhalten zugrunde als die Unwirksamkeit des operativ erreichten heruntergesetzten Gewichtssollwertes. Massiv adipöse Patienten benötigen deshalb auch nach einer bariatrischen Operation eine lebenslange medizinische Nachsorge, um die Gewichtszunahme und die Entwicklung von Adipositas-Komplikationen zu überwachen. Aus aktueller Sicht kann die bariatrische Chirurgie deshalb nicht als kurativ für die Krankheit Adipositas angesehen werden, fasst Garvey zusammen. Obwohl die Heilbarkeit von Adipositas letztlich denkbar ist, wenn mit einem klaren Verständnis der molekularen Mechanismen zur Funktion der Sollwertregulation des Körpergewichts auch die Fähigkeit entsteht, den Sollwert dauerhaft so zu modulieren, dass er wieder um ein „gesundes“ Körpergewicht oszilliert.
Garvey WT: Endocr Pract. 2022 Feb;28(2):214-222 (DOI 10.1016/j.eprac.2021.11.082 | PMID 34823000)