Seit 2020 befinden wir uns in der Erprobungsphase von digitalen Gesundheitsanwendungen, Langzeitstudien über den tatsächlichen Therapieerfolg gibt es noch nicht. Trotzdem sollte den digitalen Anwendungen eine Chance gegeben werden, denn sie begünstigen individualisierte Therapien.
Dr. med. Reem Alneebari
Fachärztin für Dermatologie
Chief Medical Officer der Nia Health GmbH
10997 Berlin
Dr. Alneebari, wer steht hinter Nia Health und der Neurodermitis-App?
Hinter den Apps „Nia“ für Patienten mit Neurodermitis und „Sorea“ für Patienten mit Psoriasis steht Nia Health. Das Unternehmen hat es sich zur Aufgabe gemacht, indikationsspezifische digitale Angebote gegen Hautleiden zu entwickeln. Nia Health ist gemeinsam mit Dermatologen der Berliner Charité entstanden und seit der Ausgründung 2019 als eigenständige Gesundheitsplattform tätig. Hinter dem Unternehmen stehen erfahrene Gründer mit sich ergänzenden Kompetenzen: Neben mir als Dermatologin sind dies Tobias Seidl (CEO und Mitgründer) und Oliver Welter (CTO und Mitgründer). Auch für die weitere inhaltliche Entwicklung der Apps arbeiten wir mit einem hochkarätigen Beratungsgremium aus führenden deutschen Dermatologen zusammen, unter anderem von der Berliner Charité oder dem Universitätsklinikum Augsburg.
Ein wichtiges Element der Apps sind die evidenzbasierten Artikel, die Patienten mit hilfreichen Tipps in ihrem Alltag zur Seite stehen. Diese bieten eine verlässliche Alternative zum Googeln von Symptomen oder Verhaltensweisen und entlasten auch nachweislich die Ärzteschaft. Viele grundlegende Fragen von Patienten rund um die Erkrankung können direkt über die App beantwortet werden und somit das Arztgespräch entlasten.
Auf welchem wissenschaftlichen Fundament beruhen die Inhalte der App?
Zunächst haben wir unsere Idee gemeinsam mit Patienten und Ärzten evaluiert. Durch ihre wertvollen Erfahrungsberichte konnten wir sicherstellen, dass unser digitales Medizinprodukt den Bedürfnissen und Anforderungen sowohl der Patienten als auch der medizinischen Fachkräfte gerecht wird. Basierend auf diesem Feedback haben wir schrittweise das Produkt entwickelt und einen Prototyp der ersten App „Nia“ erstellt. Die Inhalte der App basieren auf den Leitlinien sowie den Offline-Curricula AGNES und ARNE (Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulung e. V. mit Schulungen für Eltern betroffener Kinder/Jugendlicher bzw. Patienten ab 18 Jahren).
Welchen Zusatznutzen bietet die App – für die Patienten sowie für die Behandler?
Über die Apps können Patienten ihren Gesundheitsverlauf erfassen und wie in einem Tagebuch verfolgen. Grundlage dafür sind dermatologisch anerkannte Scores (z. B. PO-SCORAD; patientenorientierter SCORing Atopic Dermatitis). Die einfache Handhabung via Fotoaufnahme der betroffenen Hautstellen motiviert die Nutzer dazu, die Veränderungen regelmäßig zu dokumentieren. Patienten erhalten eine Vielzahl an wichtigen, evidenzbasierten Alltagstipps zum Umgang mit der Erkrankung, etwa Hinweise zum Waschen der betroffenen Hautstellen, zu den Inhaltsstoffen in Pflegeprodukten oder darüber, welchen Einfluss die mentale Gesundheit auf die Entwicklung der Erkrankung spielen kann. Für die behandelnden Dermatologen werden die Angaben zum Befinden sowie visuelle Aufzeichnungen der Haut bei Bedarf aufbereitet und in einem Report festgehalten. So kann die Krankheitsgeschichte fundierter betrachtet werden und eine anschließende Therapie zielgerichteter erfolgen.
Wie ist die Kostenerstattung geregelt?
Die Nia-App für Neurodermitis befindet sich derzeit im Verfahren zu einer anerkannten digitalen Gesundheitsanwendung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Damit wäre sie über alle gesetzlichen Krankenkassen hinweg erstattungsfähig. Aktuell laufen für die Apps „Nia“ und „Sorea“ Selektivverträge mit ausgewählten gesetzlichen und privaten Krankenkassen, wie der AOK PLUS, der HanseMerkur und der KKH. Unsere Erfahrung zeigt, dass private Krankenkassen sehr kulant sind und die Premiumversion der App häufig erstatten.
Wird die Nia-App auch im Zuge von Studien angewendet?
Derzeit evaluieren wir die Wirksamkeit der Nia-App als Therapiebegleitung von Neurodermitis-Patienten in einer klinischen Studie mit der Charité Universitätsmedizin Berlin. Diese ist Voraussetzung, um Nia als App auf Rezept im DiGA-Verzeichnis aufnehmen zu können. Es läuft aktuell eine weitere Studie, finanziert von der Investitionsbank Berlin. Hier geht es um die Frage, inwiefern klinisch validierte Scores durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz effizienter gemacht werden können. Dabei werden gemeinsam mit der Charité von Patienten generierte Bildinformationen untersucht. In einer weiteren Studie, gefördert von dem G-BA Innovationsfonds, soll festgestellt werden, wie ganzheitliche und innovative digitale Versorgungsformen auf Basis der Technologie von Nia Health in die Regelversorgung überführt werden können. Dazu wurde die validierte Neurodermitisschulung der Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulung e. V. mithilfe der Nia-App auf eine digitale Ebene gehoben. Eltern von an Neurodermitis erkrankten Kindern erhalten somit speziell auf die Bedürfnisse ihrer Kinder ausgerichtete Schulungen mit Informationen zu den zugrunde liegenden diagnostischen und therapeutischen Ansätzen.
Ausblick in die Zukunft – wo geht die Reise im Zeitalter digitaler Anwendungen hin?
Ich denke, dass sich der Gesundheitsmarkt schnellstens darauf einstellen muss, digitale Therapien zu nutzen. Nicht nur die aktuelle Digitaloffensive des Bundes ebnet den Weg dafür. Auch der demografische Wandel macht es notwendig, sich mit digitalen Anwendungen auseinanderzusetzen und diese als digitale Behandlungsergänzung zu integrieren. Ich sehe den Frust von Patienten mit Neurodermitis selbst in der Praxis. Das möchten wir ändern und Patienten vor allem zwischen den Arztterminen individuell nach Bedarf mit den Apps begleiten. Zusätzlich möchten wir mit den über die App gesammelten Erkenntnissen die medikamentöse Therapie verbessern und personalisieren.
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