Im Gesundheitswesen fehlen zunehmend Menschen und finanzielle Mittel, konstatierte Claudia Küng, Leiterin des Europäischen Gesundheitskongresses München. Welche Faktoren zum wachsenden Druck beitragen und welche Maßnahmen ihn abfangen könnten, zeigte der Kongress facettenreich.
Ökologische, digitale und geopolitische Transformationsprozesse beeinflussen die Finanzierbarkeit und Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems, erklärte Ökonom Prof. Dr. Thomas Bauer (Essen). Zudem erschwere eine zunehmende Polarisierung die Konsensbildung. Deutschland habe an Wettbewerbsfähigkeit verloren, stecke seit 2 Jahren in einer Rezession und die Wachstumsimpulse seien trotz anziehenden Welthandels schwach. Noch entscheidender sei das prognostizierte Produktionspotenzial, das bereits seit 2017 einbreche, vor allem aufgrund des mit der Zahl der Erwerbstätigen und den Arbeitszeiten sinkenden Arbeitsvolumens. Allein aufgrund des demografischen Wandels starte Deutschland jedes Jahr mit einer Wachstumsrate von minus 0,5 %. Erhebliche Investitionen seien erforderlich – die wirtschaftliche und (geo-)politische Unsicherheit steige jedoch.
Im Gesundheitssektor der Zukunft werde der Arbeitskräftemangel zunehmen. Derzeit liege die Zahl der Medizinabsolventen in Deutschland mit 12,4 vs. 17,5 pro 100 000 Einwohner unter dem EU-Durchschnitt. Außerdem sinke Erwerbspersonenpotenzial in der alternden Gesellschaft. Um es konstant zu halten, müssten jährlich 400 000 Menschen einwandern und unmittelbar in den Arbeitsmarkt integriert werden.
Beitragssätze stabilisieren
Bauers Prognose, dass Gesundheits- und Pflegekosten absehbar erheblich steigen, konkretisierte Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem (Essen). Bereits seit den 1970er-Jahren wüchsen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) deutlich stärker als die beitragspflichtigen Einkommen der Versicherten. Die Differenz steige jährlich um rund 1 %. Zukünftig stünde man demografiebedingt vor zwingend steigenden Pro-Kopf-Ausgaben. Gleichzeitig seien die Kassen am Rand ihrer Liquidität angekommen: mit einem negativen Pro-Kopf-Saldo von 25 bis 30 Euro im ersten Halbjahr 2024. Inzwischen zweifle Wasem daran, dass sich Rationalisierungsreserven im Gesundheitssystem mobilisieren lassen, die dann „das, was an Schere plus Demografie auf uns zukommt“, ausgleichen könnten.
Die Komplexität des Gesundheitssystems mache dies „extrem schwierig“. Man müsse die Begrenzung der Leistungszuwächse diskutieren und die GKV „demografiefester“ gestalten. Ansätze könnten sein, dass Versicherte geringfügige Ausgaben selbst tragen, ebenso Leistungen mit ungünstigem Kosten-Nutzen-Verhältnis oder solche für geringe oder selbstverschuldete Gesundheitsprobleme, so der Experte für Gesundheitsmanagement. Von einer Finanzierung der Mehrausgaben allein über die Beitragssätze solle man absehen. Ökonomisch sinnvoller seien eine höhere Bundesbeteiligung und Anpassungen bei PKV-Finanzierungsbeiträgen und Beitragsbemessungsgrundlagen.
Vorträge „Wie schaut es um Deutschland, um Europa aus?“, „Ist unser Gesundheitswesen mit den derzeitigen Ressourcen noch in der Lage, den steigenden Anforderungen gerecht zu werden?“