Dr. med. Jördis Frommhold, Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien, Median Klinik Heiligendamm, ist Spezialistin für Post-COVID-Schäden. Durch Reha-Maßnahmen hat sie bereits mehr als 450 Patienten behandelt. Wie Erfolg versprechend ist diese Therapie? Sind die Schäden reversibel? Die Expertin antwortet.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass an COVID-19 Erkrankte Langzeitschäden entwickeln?
Leider gibt es noch keine konkreten Zahlen und auch keine Langzeitstudien. Aber, seit 14.04.2020 haben wir bis heute über 500 Patienten diesbezüglich in Heiligendamm behandelt und leider ist die Tendenz weiter steigend. Durch diese Erfahrungswerte konnten wir aber drei Patientengruppen im Langzeitverlauf unterscheiden.
Wie grenzen sich die Gruppen voneinander ab?
Gruppe 1 sind Patienten, die einen leichten Verlauf hatten, beispielsweise grippeähnliche Symptome. Nach Abklingen der Infektion haben diese Patienten dann keine weiteren Beschwerden. Hier werden keine Langzeitfolgen beobachtet. Glücklicherweise ist das die größte Gruppe. Gruppe 2 betrifft Menschen mit einem schweren, teilweise lebensbedrohlichen Langzeitverlauf inklusive Beatmungsmaßnahmen und Behandlung auf der Intensivstation. Diese Patienten kommen dann häufig direkt vom Krankenhaus oder kurze Zeit später zur Reha zu uns. Sie weisen ein eingeschränktes Leistungsvermögen, Atembeschwerden, Erschöpfungssymptome, neurologische Ausfälle, z. B. Polyneuropathie, sowie psychosomatische Einschränkungen auf. Bei dieser Gruppe gibt es lange Rekonvaleszenzzeiten auch im Vergleich zu anderen pulmologischen Erkrankungen, die ITS-pflichtig waren. Dennoch haben wir bei dieser Gruppe mit der Reha gute Möglichkeiten, das Ganze zu stabilisieren.
Und was ist mit der dritten Gruppe?
Gruppe 3 umfasst Patienten mit leicht- bis mittelschweren Verläufen, die möglicherweise gar nicht in die Klinik mussten und nur ambulant betreut wurden. Diese Menschen haben einen unterschiedlich langen Akutverlauf; er schwankt zwischen zwei und sechs Wochen. Anschließend folgt ein beschwerdearmes Intervall. Nach etwa vier Monaten kann es aber sein, dass diese Patienten Rebound-Phänomene aufweisen. Es kommt zu Fatigue-Symptomatik, Leistungsminderung, ausgeprägten neurologisch-kognitiven Einbußen bis hin zu demenziellen Symptomen. Die Patienten klagen über Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen, massiven Haarausfall, vegetative Dysfunktion, Tachykardie- und Hypertonieneigung sowie psychosomatische Einschränkungen.
Werden nach mehreren Wochen solche Symptome der Corona-Erkrankung zugeordnet?
Das ist das Problem. Auf den ersten Blick sehen die Betroffenen gesund aus, sind aber ob der oben beschriebenen Symptome arbeitsunfähig. Die Diagnose Post-COVID-Schäden erfolgt selten. Dementsprechend herrscht große Hilflosigkeit unter den Betroffenen, unter denen es auch viele junge Menschen gibt. Meine jüngste Patientin ist 19 Jahre alt.
Wie sehen die Reha-Möglichkeiten bei Gruppe 3 aus?
Bei Gruppe 3 sind im Vergleich zu Gruppe 2 die Therapieerfolge schleppender und teilweise auch nicht erreichbar. Beispielsweise müssen wir darauf achten, dass wir bei den Fatigue-Symptomen oder der Leistungsminderung die Patienten nicht überfordern, sondern vielmehr im Rahmen des Möglichen fordern. Wir müssen die Grenzen neu definieren: Was geht, was geht nicht? Wir arbeiten viel mit Atemtherapie, aber die neurologisch-kognitiven Einschränkungen sind deutlich schwerer zu behandeln. Daher sind viele arbeitsunfähig.
Was weiß man zum Ausmaß an Post-COVID-Schäden?
Im Januar 2021 wurde eine Studie aus Wuhan mit 1 722 Patienten publiziert [1]. Nach sechs Monaten hat man geschaut, wie viele Patienten noch Beschwerden haben. Leistungsminderung, Schwäche, Abgeschlagenheit, Ängste bis hin zu Depressionen traten bei 76 % auf – also genau das, was unsere Patienten in Gruppe 2 auch haben. Knapp 80 % ist eine hohe Zahl, aber für Deutschland muss man relativieren: Im Vergleich zu China haben wir bessere therapeutische Möglichkeiten und Reha-Optionen. Und wir haben unsere Patienten von Anfang an wissenschaftlich mit verschiedenen Scores begleitet. So konnten wir die Fortschritte dokumentieren. Die Diffusionskapazität erhöht sich beispielsweise bei Gruppe 2 bis zum Ende der Reha signifikant um 20 %, die Gehstrecke beim 6-Minuten-Gehtest um 100 m, ebenfalls statistisch signifikant. Durch psychosomatische Scores konnten wir auch eine Verbesserung von Depressionen bzw. posttraumatischer Belastungsstörung mit Signifikanz nachweisen. Die Lebensqualität, die bei einer Leistungsskala von 0–10 (10 = Bestleistung) liegt, kann auf 7–8 steigen.
Gibt es konkrete Daten zu Langzeitschäden nach langer Latenzzeit?
Für Gruppe 3 gibt es kaum Studien, weil diese Gruppe erst seit Kurzem erkannt wurde. Es gibt Studien, die von bis zu 10 % Folgeschäden ausgehen, allerdings wurden die Patienten nur zwölf Wochen nachverfolgt. Wir gehen aber von einer Latenzzeit von bis zu vier Monaten aus. Die Betroffenen sollten deshalb auch nach sechs Monaten noch einmal abgefragt werden, damit wir bessere Auskünfte zu Langzeitschäden erhalten.
Welcher Patiententypus ist mit Gruppe-3-Symptomen belastet?
Meine Hypothese ist, dass Gruppe 3 sich über autoimmunologische Prozesse generiert. Das würde die Latenzzeit erklären und deckt sich auch mit Beobachtungen zu anderen viralen Erkrankungen, die ebenfalls autoimmunologische Prozesse triggern. Man konnte beispielsweise bereits Autoantikörper gegen die Haarwurzeln nachweisen, was den massiven Haarausfall in dieser Gruppe erklären würde. Das betrifft etwa 95 % der Gruppe-3-Patienten. Zudem konnten wir Autoantikörper im Liquor nachweisen, wenn neurologische Symptome diagnostiziert wurden. Auch für Myopathien oder Vaskulitis wurden schon Autoantikörper identifiziert, wobei Vaskulitis auch die neurologisch-kognitiven Einschränkungen erklären könnte. Da gibt es Parallelen zur spanischen Grippe, bei der die Demenzzahlen ja auch drastisch in die Höhe geschnellt sind.
Heißt das, ein therapeutischer Ansatz ist in Sicht?
Ja, vorausgesetzt wir können die Hypothese bestätigen. Bislang ist die Studienlage allerdings nicht ausreichend. Was wir aber machen können, ist, Patienten und Ärzte besser zu informieren.
Was sollten Ärzte und Patienten zu Post-COVID-Schäden wissen?
Ärzte und Patienten müssen wissen, dass Langzeitschäden nach vorausgegangener COVID-Infektion auftreten können, und zwar auch nach einem beschwerdefreien Intervall. Und dann sollten sie die Patienten ernst nehmen, denn diese merken den Zusammenhang ihrer Leistungseinschränkung durch COVID-Folgeschäden: „Ich bin nicht wie früher“ ist ein Satz, den ich beispielsweise oft höre. Wenn die Patienten nicht gehört werden, beginnt meist eine Abwärtsspirale mit Selbstzweifeln „Bilde ich mir das etwa ein?“, Depressionen und Ängsten.
Wie könnte eine solche Aufklärungskampagne aufgebaut sein?
Wichtig ist, dass Ärzte und auch Patienten zu den verschiedenen COVID-Verläufen informiert werden. Dabei sollte keine Panik geschürt werden, nicht jeder entwickelt Langzeitschäden. Man muss sich aber bewusst machen: eine vollständige Genesung ist nicht bei jedem möglich. Die Unterscheidung Infizierte, Gestorbene und Genesene ist nicht korrekt, denn die Gruppe der Genesenen muss differenziert werden. Später auftretende Ausfälle des Kurzzeitgedächtnisses oder sonstige neurologische Störungen müssen im Zusammenhang mit Post-COVID bekannt sein. Eine Patientin hat beispielsweise ihre Küche überflutet, weil ihr nicht bewusst war, dass sie den Wasserhahn aufgedreht hatte. Eine andere junge Mutter liest ihrem Sohn ein Diktat vor, weiß aber nicht, was der Text bedeutet.
Sind die kognitiven Verluste reversibel?
Das wissen wir noch nicht, weil wir die Ursache nicht kennen. Wir sehen aber, dass sich viel unter der Therapie verbessert, z. B. durch Hirnleistungstraining oder Ergotherapie, aber auch durch Koordinations- und Haltungsübungen. Es gibt auf jeden Fall Fortschritte, wenn auch langsame. Was insgesamt möglich ist und wie lange es dauert, diese Frage kann man leider nicht seriös beantworten.
Und wie geht die Therapie nach der Reha weiter?
Die Patienten sollten auf jeden Fall ambulant betreut werden. Gute Erfolge erzielen wir bei Leistungsminderung mit Atemtherapie. Auch Gesprächsgruppen unter psychologischer Begleitung helfen, mit der Erkrankung besser umzugehen. Und bei der Fatigue-Symptomatik ist es wichtig, den Patienten beizustehen und sie aufzuklären, dass sie sich das nicht einbilden. Die Patienten müssen zudem lernen, mit der Teilgenesung umzugehen. Überforderung an guten Tagen sollte unbedingt vermieden werden. Sonst kommt es zu einem Rückschlag und die Patienten müssen wieder von viel tiefer neu anfangen. Unsere Patienten bekommen das mit einer Trainings-App ganz gut hin.
Kann man Post-COVID-Schäden präventiv vorbeugen?
Hier spielen Faktoren wie gesunde Lebensweise und ein ausgeglichener Vitaminhaushalt, auch bezüglich Vitamin D, mit ein. Man kann zudem überlegen, ob man ASS 100 mg prophylaktisch nimmt. Hier ist aber eine Nutzen-Risiko-Abwägung gefragt, und die Medikation ist off-label. Es würde aber die hohe Gerinnungsneigung unter der COVID-Infektion verringern.
Was ist Ihre Botschaft für Hausärzte?
Es gibt verschiedene Verläufe, die man in drei Gruppen unterteilt. In Gruppe 2 und 3 kommt es zu Post-COVID-Schäden. Hier gibt es gute physikalische Therapieoptionen. Wichtig ist, neurologische bzw. kognitive Symptome sowie Fatigue zu diagnostizieren und den Reha- bzw. Behandlungsbedarf zu erkennen. Patienten der Gruppe 2 und 3 haben i. d. R. keine eingeschränkte Lungenfunktion, aber eine Diffusionsstörung, da die interstitielle Erkrankung im Vordergrund steht. Eine inhalative Therapie macht deshalb wenig Sinn, weil die Patienten nicht obstruktiv sind.
Die Expertin
Dr. med. Jördis Frommhold
Fachärztin für Innere Medizin und Pneumologie
Notfallmedizin
Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien
Median Klinik Heiligendamm
1 www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S0140-6736%2820%2932656-8, Stand: 23.03.2021
Bildnachweis: privat