Immer mehr Menschen mit Diabetes benutzen in Deutschland schon heute moderne Systeme der kontinuierlichen Glucosemessung, um ihre Glucosewerte einfach und schmerzlos zu bestimmen. Durch ihre vielfältigen Funktionen bieten sie sowohl Patienten als auch Ärzten eine Vielzahl an Therapievorteilen.
Eine aktuelle amerikanische Schätzung von J.P. Morgan geht davon aus, dass in fünf Jahren 94 % der Pumpennutzer und 82 % der ICT(intensivierte Insulintherapie)-Patienten mit Typ-1-Diabetes und 25 %der Menschen mit Typ-2-Diabetes mit ICT-Therapie eine kontinuierliche Glucosemessung verwenden werden. In vielen Sprechstunden nimmt die Analyse dieser Glucoseverläufe daher einen großen Raum ein. Das hat auch Auswirkungen bei der Bewertung von Behandlungszielen. Ein risikoadaptierter HbA1c-Wert stand bislang im Ziel der Bemühungen. Schließlich ist dies der Laborwert, der am besten das Risiko für mögliche Folgeerkrankungen des Diabetes abschätzen lässt. Allerdings ist die Aussagekraft des HbA1c hinsichtlich der für viele Menschen mit Diabetes beeinträchtigenden täglichen Glucoseschwankungen und dem Risiko für Unterzuckerungen begrenzt. Diese Parameter können wiederum mit den kontinuierlichen Messungen rtCGM (Real-Time Continuous Glucose Monitoring) oder iscCGM (Intermittent Scanning Continuous Glucose Monitoring) mit Alarmfunktion sehr gut erfasst werden. Da natürlich auch Menschen ohne Diabetes Glucoseschwankungen haben, lassen diese sich auch mit der besten Insulinbehandlung nicht vermeiden. Zur Bewertung wird daher die Zeit im Zielbereich (englisch: „Time in range“, TIR) herangezogen.
Typ-1- und Typ-2-Diabetespatienten mit ICT-Therapie oder Insulinpumpentherapie haben bei Nichterreichung des individuellen Therapieziels (HbA1c, Hypoglykämievermeidung, Lebensqualität etc.) Anspruch auf die Versorgung mit einer Methode der kontinuierlichen Glucosemessung, die im Hilfsmittelverzeichnis unter der Kategorie rtCGM zur kontinuierlichen Glucosemessung aufgenommen wurden. Seit Juli 2019 wird ein Gerät aus der Kategorie der iscCGM auch unter dieser Kategorie gelistet, da es genauso eine Alarmfunktion hinsichtlich einer Hyper- bzw. Hypoglykämie besitzt. Nicht zuletzt durch die stetig steigende Anzahl von iscCGM-Nutzern, die mittlerweile auf ca. 3 Millionen Patienten weltweit angestiegen sind, wurden viele Erkenntnisse gewonnen, die die Therapieempfehlungen maßgeblich beeinflusst haben.
Sowohl für die Patienten als auch für Ärzte bieten Messsysteme zur kontinuierlichen Glucosemessung einige wichtige Vorteile und verändern bedeutsam die Kriterien zur Beurteilung der Therapie.
• Einfachere, schmerzlose Glucosemessung: Im Gegensatz zur herkömmlichen Blutzuckermessung erfolgt die Glucosemessung unblutig und erlaubt es ohne großen Aufwand, den aktuellen Glucosewert auf dem Display zu sehen.
• Überblick über den bisherigen Glucoseverlauf: Für Menschen mit Diabetes ist es sehr wertvoll, dass ihnen als Hilfe zur Therapieanpassung bei beiden Methoden der bisherige Glucoseverlauf mit verschiedenen Auswertungsmöglichkeiten (z. B. Zeit der Glucosewerte im Normalbereich, Anzahl der Unterzuckerungen) im Display zur Verfügung steht.
• Trendanzeige über den künftigen Glucoseverlauf: Sowohl „real-time“ Glucose-Messsysteme als auch „intermittierende Glucose-Messsysteme“ (FGM/iscCGM) nutzen Trendpfeile, mit denen der Anwender in grafischer Form eine Prognose zum künftigen Glucoseverlauf erhält.
• Bessere Einschätzung des persönlichen Glucoseverlaufs und bestimmter Einflussfaktoren: Durch die Möglichkeit, die direkten Auswirkungen von z. B. Insulinkorrekturen, Essen und Trinken, körperliche Bewegung auf den Glucoseverlauf zu erkennen, können individuelle Einflussfaktoren und Glucoseverläufe besser eingeschätzt werden.
• Auswertungsmöglichkeiten: Verschiedene Download-Möglichkeiten erlauben es sowohl dem Patienten selbst als auch dem Arzt, die Glucoseverläufe systematisch im Hinblick auf verschiedenste Parameter auszuwerten und Hinweise zur Optimierung der Therapie zu bekommen.
• Digitale Anwendungen, artificial pancreas: Integrierte Insulinpumpensysteme nutzen die kontinuierliche Glucosemessung zur automatisierten Abschaltung der Insulinzufuhr bei tiefen oder abfallenden Glucosewerten und zusätzlicher Insulinabgabe bei erhöhten Glucosewerten. Die kontinuierliche Glucosemessung ist Voraussetzung für alle automatisierten Steuerungen des Insulins (artificial pancreas).
• Bessere Therapieergebnisse: In Studien konnte gezeigt werden, dass mit Systemen der kontinuierlichen Glucosemessung sowohl eine bessere glykämische Kontrolle, weniger leichte und schwere Unterzuckerungen als auch eine bessere Lebensqualität, geringere diabetesbezogene Belastungen und eine höhere Behandlungszufriedenheit erzielt werden können. Eine Bewertung des IQWiG kam 2015 auf der Grundlage vorhandener Studien zu dem Ergebnis, dass mehr Menschen mit Diabetes einen HbA1c
• Empowerment: Die kontinuierliche Glucosemessung stellt dem Patienten mehr Informationen für seine täglichen Therapieentscheidungen zur Verfügung und erlaubt durch die Auswertmöglichkeiten und zukünftig immer ausgereifteren Algorithmen und Entscheidungshilfen (Patient-support-Systems) einen selbstbestimmteren Umgang mit dem Diabetes.
Der HbA1C-Wert ist ein etablierter Laborparameter, der evidenzbasiert als Marker für die glykämische Kontrolle genutzt wird. Obwohl von einer Assozi-ation des HbA1c-Wertes mit diabetesassoziierten Komplikationen ausgegangen wird, bietet die kontinuierliche Glucosemessung zusätzliche Möglichkeiten der Therapieoptimierung. So können beispielsweise Hypoglykämien, die neben der akuten Gefährdung auch als unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität angesehen werden, besser berücksichtigt und vermieden werden. Weiterhin könnte die Glucosevariabilität, trotz fehlender Endpunktstudien, als unabhängiger Risikofaktor für mikrovaskuläre Komplikationen gelten. Zurzeit werden folgende Parameter zur Beurteilung der Glucosevariabilität herangezogen:
• Zeit im Zielbereich (70–180 mg/dl, 3,9–10 mmol/l), dies nennt man die Time in Range (TIR)
• Zeit im niedrigen Glucosebereich (
• Zeit im höheren Bereich ( > 180 mg/dl, > 10,0 mmol/l, dies nennt man die Zeit oberhalb des Zielbereiches, Time above Range (TAR))
• Variationskoeffizient (stabil
• Standardabweichung
Die erweiterten Ziele des Diabetesmanagements neben der Reduktion des HbA1c sind demnach eine Verringerung der Glucosevariabilität sowie eine Vermeidung von Hypoglykämien. Die Abbildung auf Seite 22 ermöglicht einen raschen Überblick zur dynamischen Anpassung der Diabetestherapie bei der kontinuierlichen Glucosemessung.
Die auf diese Weise erfasste Datenfülle lässt sich mittels des ambulanten Glucoseprofils (AGP) für viele wichtige Parameter standardisiert auswerten. AGP ist demnach ein Ansatz zur strukturierten Analyse von interstitiellen/kontinuierlichen Glucosedaten und erlaubt eine Vorhersage möglicher Muster in den Glucoseverläufen. In einem 2017 erschienenen internationalen CGM-Konsensus-Statement wird AGP als Standardmethode zur Visualisierung von CGM-Daten empfohlen. Zeitgleich hat eine deutsche Expertengruppe eine praxisbezogene Empfehlung zum AGP entwickelt, die auch jüngst international publiziert wurde (Tab. 1). Bei der Auswertung des AGP und der folgenden Therapieanpassung sollten nicht mehr als eine bis zwei Änderungen pro Sitzung vorgenommen werden. Die Auswertung sollte gemeinsam vom Nutzer und behandelndem Arzt durchgeführt werden, sodass durch Empowerment eine hohe Therapiezufriedenheit und -akzeptanz sowie eine verbesserte Lebensqualität erzielt werden können.
International hat man sich hinsichtlich der Beurteilung der TIR auf die in Tab. 2 dargestellten Parameter geeinigt. Ein Nichterreichen der Zeit im Zielbereich bzw. TIR kann sowohl mit einem erhöhten Risiko für Unterzuckerungen als auch mit einem erhöhten Risiko für Überzuckerungen einhergehen. Je niedriger die TIR ist, desto größer ist die Glucosevariabilität, d. h. die Glucoseschwankung, und desto größer ist die Gefahr kurz- bzw. langfristiger Über- oder Unterzuckerungskomplikationen.
Die TIR stellt bei Menschen mit Diabetes, die CGM-Systeme verwenden, einen nützlichen Parameter für die Beurteilung der Stoffwechseleinstellung dar. Ein Diabetiker, der sich beispielsweise länger im Zielbereich befindet, hat weniger Unter- und Überzuckerungen. Die TIR kann wertvolle Zusatzinformation bei der Therapieneueinstellung und -änderung und auch bei der Beratung zum Lebensstil liefern, da sie abschnittsweise, z. B. nur abends, beurteilt werden kann. Insbesondere Schwangeren mit Diabetes kann die Zusatzinformation der TIR weiterhelfen, da in der Schwangerschaft eine möglichst normale Zuckerstoffwechsellage erreicht werden soll. Aber auch Menschen mit starken Glucoseschwankungen, meist Patienten mit Insulintherapie, können von der TIR profitieren. Die TIR kann somit ein nützliches Instrument in der strukturierten Diabetesschulung sein. Insbesondere Menschen mit Typ-2-Diabetes können durch die Darstellung der TIR in verschiedenen Zeitabständen des Tages Hinweise für den Einfluss des Lebensstils auf Glucoseschwankungen erhalten. Dies könnte dazu beitragen, dass Verhaltensänderungen erleichtert werden. In Umfragen unter Diabetespatienten wurde die TIR im Rahmen des täglichen Therapiemanagements als wichtiger Parameter eingestuft.
Die kontinuierliche Glucosemessung stellt Patienten vor neue Herausforderungen, da für Therapieentscheidungen deutlich mehr Informationen zur Verfügung stehen und die Bewertung der Glucosewerte zusätzliches Wissen und Fähigkeiten erfordert. Die Voraussetzung für die richtige Nutzung der Systeme stellt die korrekte Interpretation der gewonnenen Daten und das Wissen um die richtigen Schlussfolgerungen und Therapiehandlungen dar. Zudem birgt die Methode auch neue Risiken wie z. B. eine Überforderung durch die ständige Verfügbarkeit von Glucosewerten, die häufige Unterbrechung der Tagesroutine aufgrund von Alarmen oder Trendpfeilen oder die zu schnelle Korrektur erhöhter Glucosewerte mit einem erhöhten Risiko für Unterzuckerungen. Eine Schulung ist daher absolut notwendig, um einerseits das Potenzial der kontinuierlichen Glucosemessung zu nutzen und auf der anderen Seite mögliche negative Effekte zu minimieren. Dies wird auch in dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hinsichtlich der rtCGM-Systeme gefordert. In Deutschland stehen mit Spectrum und Flash zwei Programme zur strukturierten Schulung und Behandlung zur Verfügung.
Der Autor
Dr. med. Jens Kröger
FA für Innere Medizin, Diabetologie
Zentrum für Diabetologie
21029 Hamburg-Bergedorf
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