Die Zahl der Gewaltdelikte innerhalb von Partnerschaften steigt nach Angaben des Bundeskriminalamts stetig an, mehr als 80 % der Opfer sind weiblich. Frauenärzte müssen für dieses heikle Thema sensibilisiert werden, um konkrete Gefahrensituationen zu erkennen.
Körperliche und sexuelle Gewalt sind in jeder sozialen Schicht ein Thema. Das heißt: nicht nur in Praxen, die sich in der Nähe von sozialen Brennpunkten befinden, sollte man dafür die Augen offen halten. „Dieses Problem kommt bei meinen Patientinnen nicht vor“ ist eine weitverbreitete Meinung. Die Statistik spricht leider eine andere Sprache und zeigt, dass Gewalt viele Gesichter hat, u. a. häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt unter Partnern sowie sexuelle Belästigung und Übergriffe.
Und Gewalt gegen Frauen findet nicht vor allem nachts im dunklen Park statt, sondern vornehmlich im häuslichen Umfeld. Die Polizeiliche Kriminalstatistik [1] weist für 2020 146 655 Fälle von Gewalt in Partnerschaften aus – gegenüber dem Vorjahr + 4,9 %. Etwa 18,8 % aller in der Statistik erfassten Opfer von Verbrechen sind Opfer von Gewalt in Partnerschaften. Von den Opfern waren 80,5 % weiblich und 19,5 % männlich, bei den Tatverdächtigen ist es erwartungsgemäß umgekehrt: Hier gab es 79,1 % männliche und 20,9 % weibliche Tatverdächtige. Die Tatverdächtigen sind ehemalige Partnerinnen und Partner (37,9 %), Ehepartnerinnen und Ehepartner (32,3 %) oder Partnerinnen und Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft (29,4 %) und die Deliktsstruktur umfasst „einfache“ Körperverletzung (61,6 %), gefährliche Körperverletzung (22,3 %), Bedrohung, Stalking oder Nötigung (12,2 %), Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe (2,3 %) sowie Mord und Totschlag (0,3 %).
Gynäkologische Auswirkungen
Bei den Auswirkungen von Gewalt auf die Frauengesundheit lassen sich körperliche und psychische Aspekte unterscheiden (Abb. 1) [2]. Beide können erhebliche Auswirkungen auf die Untersuchungen der Genitalorgane sowie auf Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit haben [3]. Körperlich leiden Frauen nach erlebter sexueller Gewalt stärker an chronischen Unterbauchschmerzen [4] und Depressionen [5]. Auch das Risiko für sexuelle Funktionsstörungen ist höher [6]. Viele der psychischen Aspekte sind relevant für die frauenärztliche Betreuung. So empfinden Frauen nach sexueller Gewalt vermehrt Stress bei gynäkologischen Untersuchungen und vermeiden sie daher [7]. Unerwünschte Schwangerschaften treten signifikant häufiger auf [8]. Die weiteren psychischen Folgen reichen von einer veränderten Körperwahrnehmung über Beziehungsstörungen zu Partner oder Kindern, über verändertes Suchtverhalten bis zu klar diagnostizierbaren posttraumatischen Belastungsstörungen [9].
Eine Schwangerschaft erhöht das Risiko, Gewalt zu erleben, und gleichzeitig steigen bei Gewalt in der Schwangerschaft die Risiken für Frühgeburt und Wachstumsretardierung [10] sowie Ängste und Depressionen in der Schwangerschaft und nach der Geburt [11]. Eine norwegische Kohortenstudie zeigte signifikante Unterschiede hinsichtlich einer geringeren Vorfreude auf das Kind sowie ein höheres Risiko für primäre Sectio [12]. Eine Fall-Kontroll-Studie aus der Schweiz verglich Frauen mit sexueller Gewalt in der Kindheit und Frauen ohne dieses Risiko. Erhöhte Raten an Krankenhausaufenthalten, vorzeitiger Wehentätigkeit, ein höheres Risiko für eine kritische Verkürzung der funktionellen Zervix und eine erhöhte Frühgeburtsrate wurden beschrieben [13].
Leider ist dieses Problem unter Frauenärztinnen und -ärzten nur unzureichend bekannt. Bei der Kür der „Top 10 der Vergessenen Nachrichten“ durch die Initiative Nachrichtenaufklärung e. V. (INA) landete 2021 die ärztliche Unkenntnis im Umgang mit Gewalt in der Schwangerschaft auf dem dritten Platz. Das ist umso trauriger, da die Gewalterfahrung in dieser sensiblen Phase die Gesundheit von Mutter und Kind gleichermaßen betrifft. Daher ist die Abschätzung akuter Bedrohung gerade während der Schwangerenvorsorge besonders wichtig.
Sensibler Umgang gefragt
Das Erkennen von Frauen mit einem Risiko für Gewalterfahrungen ist diffizil. Neben dem Beobachten von Risikoindikatoren kann auch die gezielte Befragung dafür genutzt werden. Ein anderer Weg ist die genaue Beobachtung von auffälligen Verhaltensmustern, den „red flags“. Dazu gehört die Weigerung, sich untersuchen zu lassen. Und wenn Frauen, die normalerweise ohne Kopfbedeckung und Schminke kommen, plötzlich anders aussehen, kann das damit zu tun haben, dass sie Verletzungen verdecken wollen. Die Scham, über häusliche Gewalt zu sprechen, ist nach wie vor sehr hoch. Deshalb erfordert es auch ein gewisses Fingerspitzengefühl, das Gespräch mit der Patientin in diese Richtung zu lenken. Die folgenden Aspekte sollten beim Verdacht auf stattgehabte Gewalterfahrung immer berücksichtigt werden [2]:
• Einfühlsamkeit, Sensibilität und Geduld
• ausreichender zeitlicher Rahmen für die Untersuchung und ein geschützter Raum
• Benennen der einzelnen Untersuchungsschritte in angemessenem Tempo
• Möglichkeit zur Kontrolle der Untersuchungssituation (Vorgehen, Geschwindigkeit, Abbruch)
• unmittelbare Rückmeldung über das Ergebnis
Mit Triggerreizen werden besondere Situationen beschrieben, die das Wiedererleben der Gewalterfahrungen hervorrufen. Diese Trigger sind den Patientinnen oft selbst nicht bekannt, selbst sensibler Umgang mit Frauen nach Gewalterfahrungen kann einen „flash back“ hervorrufen, etwa Ultraschallgel, weil es an Sperma erinnern kann, oder Berührung der Vulva und Vagina [2].
Konkrete Gefahrensituation erkennen
Gerade bei der Betreuung von Schwangeren ist es wichtig, auf „red flags“ zu achten. Eine Metaanalyse zu Gewalterfahrung in der Geburtshilfe hatte empfohlen, nach sexueller und häuslicher Gewalt zu screenen [14]. In Deutschland ist das bislang noch nicht üblich, grundsätzlich wären einfache Fragen zum Ankreuzen auf den Standardanamnesefragebögen der Frauenarztpraxis möglich:
• Hatten Sie bisher Gewalterfahrungen?
• Wurden Sie in der letzten Zeit getreten, geschlagen, sexuell misshandelt?
• Fühlen Sie sich aktuell bedroht?
Eine Alternative zum generellen schriftlichen Screening ist das routinemäßige Nachfragen im persönlichen Gespräch mit offenen Fragen [2]:
• Wie haben Sie die Schwangerschaft geplant?
• Freuen Sie sich auf die Geburt des Kindes?
• Wie ist die Beziehung zu Ihrem Partner?
• Was möchten Sie in Bezug auf Sexualität, Schwangerschaft und Geburt noch ansprechen?
Gegebenenfalls kann man unterstützend nachhaken:
• Haben Sie schon Schlimmes erlebt?
• Haben Sie vor bestimmten Personen Angst?
• Haben Sie negative sexuelle Erfahrungen machen müssen?
Bei Hinweisen auf häusliche Gewalt geht es neben der Abschätzung der bisherigen Gewalterfahrung als Risiko für die Gesundheit auch darum, ob eine akute Gefährdung der Patientin vorliegt. Eine stationäre Aufnahme kann im Zweifel eine Notsituation entschärfen. Zusätzlich können Schutzeinrichtungen wie Frauenhäuser zu Hilfe gezogen werden [2]. Sorgfältige Dokumentation von möglichen Befunden ggf. unter Hinzuziehung der Rechtsmedizin ist für die weitere Betreuung der Patientin, aber auch für die Abschätzung im Verlauf und mögliche Verwertung vor Gericht besonders wichtig [2].
Sonderfall ganz junge Frauen
Ganz andere Facetten gibt es bei jungen Mädchen zu beachten. Durch das Internet ist der Zugang zur Pornografie allgegenwärtig und gerade junge Mädchen, die noch keine wirklichen Erfahrungen haben, können hier schnell zu Opfern werden. Sie willigen mitunter leichtgläubig in sexuelle Praktiken ein, die schmerzhaft und verletzend sind – nur um in der Peer-Group keine Außenseiterin zu sein. Für diese Altersgruppe ist ein positiver Einfluss durch den Frauenarzt – zu denen man ja aus Gründen der Kontrazeption in der Regel einen regelmäßigen Kontakt hat – ganz wichtig. Die Botschaft muss immer lauten: „Mach nur das, wozu Du Lust hast.“ Dazu braucht es nicht einmal eine eigene Mädchensprechstunde. Jede Pillenberatung bietet die Möglichkeit, auch dieses Thema an die Frau zu bringen (siehe Kasten).
Wie lässt sich Gewalt verhindern?
Häufig beginnt Gewalt mit einer psychischen Abwertung – das darf man getrost als Frühsymptom einer gewaltbereiten Beziehung sehen. Am späten Ende der Präventionskette stehen die Frauenhäuser. Die bieten einen gewissen Schutz, aber zu dem hohen Preis, das gewohnte Umfeld verlassen zu müssen. Um früher anzusetzen und das Problem dort zu adressieren, wo es entsteht, versuchen viele Projekte, das Thema aus den häuslichen vier Wänden hinaus in die Öffentlichkeit zu tragen. Dazu gehören bundesweite Aktionen wie „Jetzt rede ich“ des Bundesfamilienministeriums und lokale Aktionen wie „StoP – Stadtteil ohne Partnergewalt“, das vor rund 15 Jahren in Hamburg von der Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Sabine Stövesand ins Leben gerufen wurde. Im Kern geht es bei StoP darum, dass Betroffene ermutigt werden, über Schlagen, Bedrängen und Bedrohen in den eigenen vier Wänden offen zu sprechen, damit andere sensibilisiert werden und sich solidarisieren. Niederschwellige Angebote wie das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (https://www.hilfetelefon.de/) beraten betroffene Frauen und Betreuer. Infomaterialien im Wartezimmer können Frauen dazu ermutigen, über ihre Erfahrungen zu sprechen (Abb. 2). Interessante Aspekte zum Thema bietet eine Podcast-Reihe von Zonta Hamburg: www.podcast.de/episode/587430410/trailer-jede-dritte-frau
1 BKA, Partnerschaftsgewalt – Kriminalstatistik 2020
2 Gabrys M et al., Gynäkologe 2019; 52: 951–962
3 Arias I, J Womens Health 2004; 13: 468–473
4 As-Sanie S et al., Am J Obstet Gynecol 2014; 210: 317, e1–317.e8
5 Meltzer-Brody S et al., Obstet Gynecol 2007; 109: 902–908
6 Lutfey KE et al., Fertil Steril 2008; 4: 957–964
7 Weitlauf JC et al., Obstet Gynecol 2008; 112: 1343–1350
8 Lukasse M et al., BMC Pregnancy Childbirth 2015; 15: 120
9 Hornberg C et al., Gesundheitsbericht des Bundes 2016; 42
10 Donovan BM et al., BJOG 2016; 123: 1289–1299
11 Records K, J Psychosom Obstet Gynaecol 2009; 30: 181–190
12 Henriksen L et al., BJOG 2014; 121: 1237–1244
13 Leeners B et al., J Psychosom Res 2010; 69: 503–510
14 O’Doherty L et al., BMJ 2014; 348: g2913
15 Skovlund CW et al., Am J Psychiatry 2018; 175: 336–342
16 Skovlund CW et al., JAMA Psychiatry 2016; 73: 1154–1162
17 Hannaford PC et al., BMJ 2010; 340: c927