Mit der Zulassung von Liraglutid 3 mg zur Adipositastherapie bei Patienten ab 12 Jahren kann die multimodale Behandlung um eine medikamentöse Therapie erweitert und für die Betroffenen erleichtert werden.
Mit neuen Erkenntnissen zu den Ursachen und limitierten Möglichkeiten einer konventionellen Therapie verändert sich aktuell die Wahrnehmung der Adipositas. Sie wird als chronische, aber behandelbare Erkrankung differenzierter und zunehmend weniger als „Spielart des Normalen“, die man ausschließlich durch Verhaltensänderung beeinflussen kann, betrachtet. Die „Anerkennung der Adipositas als Krankheit“ durch den Bundestag im Juli 2020 unterstützt diese Entwicklung. Zudem erging an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) der Auftrag, ein Disease-Management-Programm (DMP) für Adipositas zu erstellen – ein wichtiger Meilenstein in Deutschland und endlich die Chance, einer leitliniengerechten [1-3] Regelversorgung näher zu kommen, kommentierte Prof. Dr. med. Matthias Blüher (Leipzig).
Gleichwohl müssten weitere Hürden genommen werden, z. B. Vorurteile bei Eltern, Ärzten und Lehrern abgebaut, Stigmatisierung, Diskriminierung und Schamgefühle vermieden und die Kommunikation mit Kindern und Eltern optimiert werden, um diese motivieren zu können (Coping-Ansatz). Ansonsten bestehe die Gefahr von Selbstwertverlust, Resignation oder psychischen Erkrankungen, erklärte Prof. Dr. med. Johannes Hebebrand (Essen).
Medikamentöse Gewichtsbremse
Das ursprünglich zur Behandlung von Typ-2-Diabetes entwickelte und zugelassene Liraglutid ist bereits seit 2015 auch zur Adipositastherapie bei Erwachsenen einsetzbar. „Zum ersten Mal in meinem Leben nehme ich ab. Ich sehe eine kontinuierliche Gewichtsabnahme über einen längeren Zeitraum in einem Ausmaß, das ich so vorher nicht kannte“, zitierte Prof. Dr. med. Martin Wabitsch (Ulm) positive Aussagen seiner Patienten.
Nach überzeugenden Ergebnissen der randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten multinationalen Phase-III-SCALE-Teens-Studie erhielt Liraglutid 3 mg als erste medikamentöse Therapie im vergangenen Jahr nun auch für die Altersgruppe der unter 18-Jährigen die EU-Zulassung [4]. Unter der Kombination aus Lebensstilintervention plus Liraglutid konnten 43,3 % der Teilnehmer ihr Gewicht um mehr als 5 % reduzieren – verglichen mit 7 % in der Placebogruppe. Dabei verloren 26,1 % mehr als 10 % ihres Ausgangsgewichts, unter Placebo gelang das nur jedem Zehnten. Bei insgesamt guter Verträglichkeit traten am häufigsten gastrointestinale Beschwerden auf, die durch eine langsame Auftitration gemildert werden können. Liraglutid 3 mg kann in einem multimodalen Therapiekonzept mit u. a. Ernährung, Bewegung und Psychoedukation bei adipösen Jugendlichen (Ausgangs-BMI ≥ 30 kg/m2, Gewicht > 60 kg) zum Einsatz kommen. Wünschenswert wären die baldige Erstattungsfähigkeit sowie die Implementierung eines DMP mit der Pharmakotherapie als integraler Bestandteil in allen Therapiearmen.
Die Biologie spielt eine wesentliche Rolle
Um den Blick auf von Adipositas Betroffene auch in der Gesellschaft zu verändern und sie vor Stigmatisierung und Schuldzuweisungen zu schützen, sei es wichtig, dass sich Hausärzte, Pädiater sowie Kinder- und Jugend-Psychotherapeuten näher mit den Ursachen der Erkrankung beschäftigen, v. a. mit den biologischen Grundlagen der Gewichtsregulation, betonte Wabitsch. Denn die Adipositas unterliege vielen Einflussfaktoren: Der veränderte Lebensstil mit einer Dysbalance von Energiezufuhr und -verbrauch sei nur einer der Gründe für die zunehmende Prävalenz der Adipositas im jüngeren Lebensalter. Untrennbar damit verbunden sind die genetischen Anlagen und das Lebensumfeld der Kinder, von Schwangerschaft über verhaltensbeeinflussende familiäre Lebensumstände bis zum sozioökonomischen Status. Denn genetische und epigenetische Mechanismen „programmieren“ schon früh, wie ein Individuum auf spätere gesellschaftliche und Umwelteinflüsse reagiert, so Wabitsch.
Therapieformen und -ziele einer Verhaltenstherapie, mit der eine Gewichtsreduktion oft nur sehr schwer zu erreichen ist, sollten empathisch und realistisch besprochen werden. In den Behandlungsansatz sollte aber eben auch das Wissen einfließen, dass durch die Diagnose einer molekularen Störung einige Formen pharmakologisch therapierbar sind, so Wabitsch. Bei begründetem Verdacht könne dies durch eine genetische Analyse in einem entsprechenden Zentrum abgeklärt werden.
Seminar „FokusAdipositas: Adipositas – Kinder und Jugendliche“ (Veranstalter: Novo Nordisk Pharma GmbH),virtuell, April 2022