Schwindel hat vielfach psychogene Ursachen. Die Entwicklung individueller Krankheitskonzepte, die Identifikation zugrunde liegender intrapsychischer Konflikte und das Erlernen von Strategien zur Bewältigung der Erkrankung sind Basis einer hilfreichen professionellen Psychotherapie.
Studien zeigen, dass bei bis zu 80 % der Schwindeldiagnosen in der Hausarztpraxis keine spezifischen Ursachen genannt werden. In anderen Untersuchungen wurde bei den unter 60-Jährigen in bis zu 60 % aller Fälle eine psychogene Ursache beschrieben. Der psychogene Schwindel gehört in der ICD-10-Klassifikation zu den somatoformen Störungen (F45.X) und kommt bei Angst- und depressiven Erkrankungen gehäuft vor. Insofern wird Schwindel auch als Symptom bei generalisierter Angst (F41.1) und Panikstörung (F41.0) beschrieben. Da diese Diagnosen bei Frauen häufiger gestellt werden, kann bei wenig aussagekräftiger Studienlage davon ausgegangen werden, dass der psychogene Schwindel öfter bei Frauen auftritt. Relevanter als das Geschlecht ist beim Schwindel allerdings das Alter. In einer epidemiologischen Befragung von über 65-Jährigen gaben bis zu 40 % an, im vergangenen Jahr Schwindel gehabt zu haben. Dabei sind organische Ursachen im Alter durch degenerative Prozesse häufiger, während bei jüngeren Menschen die psychogene Ursache überwiegt.
Angst verstärkt Symptomatik
Auch wenn psychogener Schwindel nicht auf organischen, z. B. degenerativen, Ursachen beruht, drückt er sich dennoch körperlich aus. Hierbei stehen insbesondere Symptome im Vordergrund, wie sie typischerweise ebenfalls bei Angst auftreten. Oft sind das Beschwerden wie Atemnot, Herzrasen, Benommenheit oder Schweißausbrüche. Diese normalen körperlichen Reaktionen auf eine starke, durch Angst getriggerte Adrenalinausschüttung in Kombination mit einer Schwindelsymptomatik (häufig handelt es sich hierbei um einen Schwankschwindel) sind für die Patienten extrem unangenehm und beunruhigend. Nicht selten führen sie zu einer Selbstverstärkung der Symptome über die Angst, bzw. die Angst ist der eigentliche Auslöser des Schwindels, wird als solche jedoch nicht wahrgenommen. Insbesondere im Zusammenhang mit einer bestehenden oder daraus resultierenden Angststörung kommen oft weitere belastende Symptome wie Unruhe, Anspannung oder Schlafstörungen hinzu. Auch die Schilderung emotional belastender Situationen oder Konflikte im Zusammenhang mit den Schwindelanfällen deuten in der Regel auf eine psychogene Ursache hin. Oft werden subjektiv heftigste Symptome geschildert, die mit der sichtbaren Beeinträchtigung nicht in Einklang zu bringen sind. Insbesondere in Kombination mit Schwindel, welcher durch eine muskuläre Anspannung im HWS-Bereich ausgelöst wird, kommt es zu einem Circulus vitiosus mit Anspannung, Schwindel, Angst, verstärkter Anspannung etc.
Bausteine einer hilfreichen Psychotherapie
Da Schwindel meist nicht monofaktoriell bedingt ist und organische Ursachen wie Störungen der Vestibularfunktion, Schäden am ZNS, kardiovaskuläre Ursachen etc. primär ausgeschlossen werden müssen, ist es natürlich sinnvoll, dass der Patient zunächst beim Hausarzt vorstellig wird und ihm die Triage überlässt. Dabei ist ein psychogener Schwindel immer auch eine Ausschlussdiagnose.
Die Behandlung sollte immer entspannende und psychotherapeutische Verfahren beinhalten.
Sind keine körperlichen Ursachen feststellbar, sollte eine psychotherapeutische Behandlung erfolgen, um einer Gefahr der häufigen Chronifizierung entgegenzuwirken. Die Entwicklung eines individuellen Krankheitskonzeptes, die Identifikation der zugrunde liegenden intrapsychischen Konflikte bzw. Ursachen und das Erlernen von Strategien zur Bewältigung der Erkrankung sind wesentliche Bausteine einer Psychotherapie.
Je nach Ansatz (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Psychotherapie oder systemische Therapie) sind die einzelnen Anteile unterschiedlich schwer gewichtet. Bei den meisten Betroffenen wird eine Verhaltenstherapie angeraten, die häufig zu einer Besserung der Symptomatik führt.
Ein wichtiger Baustein in der Therapie sind darüber hinaus Maßnahmen, die dabei helfen, das innere Anspannungsniveau zu regulieren. Empfehlenswert sind beispielsweise die Progressive Muskelrelaxation oder autogenes Training. Auch Achtsamkeitsübungen können dazu beitragen, die Erkrankung langfristig zu bewältigen.
Psychopharmakotherapie hilft begleitend
Je nach Beschwerdebild und eventueller komorbider psychischer Erkrankung kann eine Psychopharmakotherapie begleitend eingesetzt werden, z. B. mit Antidepressiva bei depressiver Symptomatik (bevorzugt SSRI bei günstigem Wirkungs-Nebenwirkungs-Profil) sowie mit stimmungsstabilisierenden oder auch dämpfenden, schlaffördernden und entspannenden Medikamenten (etwa Mirtazapin oder niedrig dosiertes Quetiapin). Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass viele dieser Medikamente selbst eine Schwindelsymptomatik hervorrufen können und primär gegen die weiteren aufrechterhaltenden psychischen Symptome gegeben werden. Eine Indikation bei Schwindel besteht nicht.
Psychogener Schwindel ist insbesondere bei unter 60-Jährigen die führende Ursache. Dennoch müssen organische Ursachen ausgeschlossen werden. Die Auslöser ähneln denen anderer psychischer Erkrankungen, allen voran den depressiven und Angsterkrankungen. Dementsprechend ist das Risiko für Personen mit psychischen Belastungen erhöht. Risikofaktoren sind Stress in allen Lebensbereichen, aber vor allem in Beziehungen und bei (intra-)psychischen Konflikten.
Der Autor
Dr. med. Andreas Hagemann
Psychiater
Ärztlicher Direktor der Röher Parkklinik in Eschweiler bei Aachen sowie der Privatklinik Merbeck in Wegberg
an.hagemann@roeher-parkklinik.de
Die Röher Parkklinik ist u. a. spezialisiert auf Depressions- und Angsterkrankungen. Schwerpunkt der Privatklinik Merbeck ist die multimodale psychosomatische Therapie von Menschen mit chronischen Schmerzen und Schmerzstörungen.
Literatur beim Autor
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