Der Abschlussbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu der Nutzenbewertung „Alemtuzumab, Cladribin, Dimethylfumarat, Fingolimod, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod und Teriflunomid zur Behandlung Erwachsener mit hochaktiver schubförmig-remittierender Multipler Sklerose“ zeigt, dass in großem Umfang u. a. versorgungsrelevante Daten fehlen. Vorteile seien daher nur bei drei von zehn untersuchten Wirkstoffen zu sehen. Aus Sicht des Institutsleiters Dr. med. Thomas Kaiser könnten die bestehenden strukturellen Hindernisse beim Schließen dieser Evidenzlücken, beispielsweise Fragen der Finanzierung der oft hochpreisigen Studienmedikation oder auch organisatorische Hürden, beseitigt werden.
Mit der Bewertung von insgesamt zehn Wirkstoffen zur Behandlung von multipler Sklerose (MS), hatte der Gemeinsame Bundesausschuss das IQWiG beauftragt: Die Immunmodulatoren Cladribin, Dimethylfumarat, Ozanimod, Ponesimod, Teriflunomid, Fingolimod sowie die monoklonalen Antikörper Alemtuzumab, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab sollen günstig auf das Immunsystem von Betroffenen mit schubförmig wiederkehrender MS (Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis, RRMS), der häufigsten Form von Multipler Sklerose, wirken.
Der Verlauf dieser chronischen Erkrankung kann stark variieren, so dass in unterschiedlichen Phasen jeweils andere Therapiestrategien notwendig sind. Die Vor- und Nachteile dieser Wirkstoffe bei Erwachsenen mit einer hochaktiven RRMS trotz Vorbehandlung hat das IQWiG daher in vier verschiedenen Therapiestrategien untersucht. Was dabei für die Betroffenen besonders wichtig ist, hat das IQWiG im persönlichen Gespräch erfahren: Welche Auswirkungen die Erkrankung auf Leben und Alltag hat und wie die Betroffenen damit umgehen, welche Ziele die Behandlung erreichen soll und welche Therapieerfahrungen sie bereits gemacht haben.
Therapeutische Ungewissheit durch Evidenzlücken nach der Zulassung
Die abschließenden Ergebnisse der Nutzenbewertung sind lückenhaft. Auch nach dem Stellungnahmeverfahren und der Erörterung liegen zum Vergleich der Wirkstoffe untereinander als Eskalationstherapie zwar für sieben der zehn Wirkstoffe Studiendaten vor, allerdings kaum direkt vergleichende Daten. Ergebnisse zu solchen direkten Vergleichen gibt es für drei Wirkstoffe: Demnach bieten Ofatumumab und Ponesimod einen höheren Nutzen für Betroffene (jeweils im Vergleich mit Teriflunomid). Zu zwei Wirkstoffen haben Hersteller überhaupt keine Daten für die Nutzenbewertung übermittelt.
In der einzigen Studie, die Daten zum Vergleich einer Eskalation gegenüber der Fortführung einer bestehenden Therapie liefert, ist Alemtuzumab als Eskalationstherapie einer Basistherapie mit Interferon-beta 1a überlegen. Aussagen zum Nutzen der 10 Wirkstoffe im Vergleich zueinander sind damit hier nicht möglich.
Ist die Krankheit inaktiv oder geht ein Wirkstoff mit intolerablen Nebenwirkungen einher, könnte auch eine Deeskalation, also eine Reduzierung der Dosis oder der Wirkstoffe, sinnvoll sein. Für solche Behandlungsstrategien fehlen allerdings ebenfalls relevante Studien, obwohl sie für viele Betroffene wichtige Behandlungsansätze darstellen.
Vergleiche der Eskalationstherapie
Die IQWiG-Bewertung ist die erste Untersuchung zum Vergleich der bis 2021 zugelassenen Wirkstoffe innerhalb der Eskalationstherapie bei Patienten mit hochaktiver RRMS und einer Vorbehandlung. Neben den Vorteilen, die drei von zehn Wirkstoffen zeigen, ist der enorme Umfang der Forschungslücken ein weiteres zentrales Ergebnis.
„Unsere Nutzenabwägung basiert nur auf Vergleichen der Eskalationstherapie. Für den überwiegenden Teil der weiteren Vergleiche und Therapiestrategien fehlen Daten. Zu zwei Wirkstoffen haben uns Hersteller die notwendigen Unterlagen auch nach Stellungnahmeverfahren und Erörterung nicht übermittelt – dazu wäre eine gesetzliche Verpflichtung wünschenswert. Teilweise wurden zudem relevante Zielgrößen in einzelnen Studien nicht erhoben“, sagt Kaiser, und ergänzt: „Das Problem ist: Es liegen nur wenige direkt vergleichende Studien vor, indirekte Vergleiche lassen sich mit den vorhandenen Studien aber nur begrenzt durchführen. Und zu zwei versorgungsrelevanten Fragestellungen wurden gar keine Studien durchgeführt.“
„Der Bericht zeigt, dass versorgungsrelevante Daten in großem Umfang fehlen.“, sagt Dr. rer. nat. Daniela Preukschat, Bereichsleiterin für Chronische Erkrankungen im IQWiG-Ressort Arzneimittel. „Unabdingbar ist, dass patientenrelevante Zielgrößen Teil der Studienplanung werden, beispielsweise Sehstörungen, Fatigue und gesundheitsbezogene Lebensqualität. Wie wichtig diese Endpunkte, aber insbesondere Evidenz zu einer gezielten Deeskalation und Langzeitbeobachtungen für Betroffene sind, zeigte sich auch im Verlauf der mündlichen Erörterung zum Vorbericht.“
Diese Forschungslücken ließen sich aus Sicht des Institutsleiters Thomas Kaiser durch ergebnissichere vergleichende Studien, insbesondere registerbasierte randomisierte kontrollierte Studien (RRCT), wirksam schließen. Kaiser: „Die strukturellen Hindernisse für die Evidenzlücken, beispielsweise Fragen der Finanzierung der oft hochpreisigen Studienmedikation oder auch organisatorische Hürden, lassen sich beseitigen. Die laufenden Überlegungen zum Registergesetz enthalten bereits wirksame Ansatzpunkte dafür. Im Bereich Multiple Sklerose haben wir mit dem MS-Register gute strukturelle Voraussetzungen, um eine RRCT zu Deeskalationsstrategien durchzuführen. Die Erörterung zu unserem Bericht zeigt: Mit einer gemeinsamen Anstrengung von Selbsthilfe, Fachgesellschaft und Industrie sollte dies möglich sein.“
Pressemitteilung „Multiple Sklerose: Kaum Evidenz für eine gute Patientenversorgung“. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Köln, 4.10.2023 (https://www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_102401.html).