Evidenzbasierte Medizin (EBM) sollte für alle Ärzte und Ärztinnen selbstverständlich sein – doch sie hat auch ihre Grenzen. Denen widmete sich Prof. Dr. med. Dr. phil. Peter Herbert Kann (Marburg) im Festvortrag mit dem Titel „Evidenzbasierte Medizin – Leitlinie statt Großhirn?“
„Evidenzbasierte Medizin ist kein Dogma“, sagte er, „sondern eine Interpretation wissenschaftlicher Daten. Was auch der Grund dafür ist, dass es zwischen verschiedenen Ländern immer leichte Unterschiede in den Leitlinien gibt, weil Daten auch interpretiert werden.“ Aus seiner Sicht sollten medizinische Entscheidungen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, man sollte auch die Limitationen kennen. „So eine praktische Umsetzung von evidenzbasierter Medizin bewegt sich im Spannungsfeld zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und unserem Wissen. Wir behandeln immer eine Patientin und nicht eine Krankheit. Und dann müssen wir dieses EBM-Wissen auch auf die klinische Situation anwenden. Jeder Behandler hat individuelle Erfahrungen, Fähigkeiten und auch Präferenzen, kennt Meinungsbildner und klinische Lehrer. Diese weichen Entscheidungsfaktoren sind wichtig bei seltenen Erkrankungen, zu denen es wenig Daten gibt. Sie sind weniger wichtig bei häufigen Erkrankungen, für die wir gute Leitlinien haben.“
Nachdem er den Jadad-Score vorgestellt hatte, hangelte er sich durch die verschiedenen Evidenz-Level bis ganz nach unten zum Level D/5. Er nannte das „GOBSATT“: good old boys sitting around the table, landläufig heißt das eher „Eminenz-basierte Medizin“. Doch er hielt auch fest: „Persönliche Erfahrung sollte nicht über-, aber auch nicht unterschätzt bzw. unterbewertet werden. Bisweilen ergibt sich der Weg zur korrekten Diagnose (speziell bei seltenen Erkrankungen/untypischen Fällen) aus einer Inspiration. Erfahrung kann daher die Grundlage einer wegweisenden Inspiration oder auch einer ernst zu nehmenden Kritik sein.“
Anhand eindrucksvoller und unterhaltsamer Beispiele zeigt er danach auch die Limitierungen der Evidenz. Die zum Teil auf Studiendesigns beruht, die nicht dazu gepowert sind, die tatsächlichen klinischen Fragen zu klären. Sei es schlicht aus schlechter Planung oder auch aus wirtschaftlichen Interessen, wie Prof. Kann anhand der Rosiglitazon-Story aus den 2000er-Jahren zeigte. Zum Schluss ging er am Beispiel der Postmenopause darauf ein, wie sich Anforderungen verschieben. Noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts lag das Durchschnittsalter von Frauen bei 38,5 Jahren – 2023 bei 83 Jahren. „Eine längere nachklimakterische Lebensphase war früher ein Ereignis, das nur sehr wenige priviligierte Frauen erlebt haben.“
Vortrag von Prof. Dr. med. Dr. phil. Peter Herbert Kann (Marburg)