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Gynäkologie

Spagat zwischen Wissenschaft und Praxis

Wenn die Leitlinie zur "Leid-Linie" wird

Prof. Dr. med. Thomas Römer

12.1.2022

Vor vielen Jahren waren Leitlinien noch eine Ausnahme. Heute werden immer mehr davon erstellt, auch für seltene klinische Entitäten oder für selbstverständlich scheinende Situationen wie eine vaginale Geburt. Leitlinien an sich dienen dazu, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in konkrete Empfehlungen umzusetzen, um einen Handlungskorridor zu geben. Das soll die praktische Tätigkeit erleichtern, ohne die individuelle Therapieentscheidungen einzuschränken.

Obwohl das Beispiel eines Handlungskorridors immer genannt wird, wie auch das Argument, dass Leitlinien keine Richtlinien sind, sieht es in der Umsetzung dann doch oft anders aus. Aus meiner Erfahrung als Gutachter werden Leitlinien immer wieder in Prozessen herangezogen und Formulierungen, die von den Erstellern oft positiv und hilfreich gemeint sind, juristisch dann doch sehr weichgeklopft. Juristen sagen sogar, das Beste was Mediziner für ihre Zunft leisten können, ist die Erstellung von Leitlinien. Das vereinfacht ihnen die Arbeit, wenn es um Behandlungsfehler geht.

Die Erstellung von Leitlinien ist oft eine sehr mühsame Tätigkeit

Gerade das Thema „Behandlungsfehler“ wird in der Öffentlichkeit ­immer wieder breit diskutiert. Eine Tageszeitung berichtete kürzlich, dass Patienten nahezu aufgefordert werden, auch für einen vergessenen Faden bis zu 5.000 Euro Schadenersatz zu verlangen. Derartige ­Artikel fördern das Vertrauen in die Ärzteschaft nicht, auch wenn bekannt ist, dass maximal 20 % der vorgebrachten Vorwürfe wirklich berechtigt sind. Natürlich sollten relevante Vorwürfe auch sachverständig beurteilt werden. Allerdings wird dadurch sehr viel ärztliche Zeit ­gebunden. Heute wird oft vorausgesetzt, dass immer ein 100%iger Behandlungserfolg eintritt. Ist das nicht der Fall, wird geklagt. Früher betraf das vor allem die Geburtshilfe, dann vermehrt auch gynäkologische Operationen, jetzt immer häufiger gynäkologische Behandlungen in der Praxis.

Die Erstellung einer Leitlinie ist oft eine sehr mühsame Tätigkeit. Vor allem, wenn es um interdisziplinäre Leitlinien geht, was aber natürlich medizinisch bei vielen Erkrankungen sinnvoll ist, gerade im onkologischen Bereich. Noch schwieriger ist es, wenn verschiedene Berufsgruppen ­Ansprüche anmelden. Ein leidvolles Beispiel dafür ist die Leitlinie zur vaginalen Geburt, die inzwischen auch vielfach diskutiert und kritisiert wurde, weil sie in einigen Bereichen eher einen Rückschritt als einen medizinischen Fortschritt darstellt. In anderen Leitlinien ist es schwierig, praktische Dinge – wie die Vaginalsonografie oder den Zusammenhang zwischen Hormontherapie und gynäkologischen Karzinomen – abzubilden, weil höherwertige evidenzbasierte Studien einfach fehlen. ­Und internationale Leitlinien bilden oft nicht die Realität im deutschen ­Gesundheitswesen ab, insofern sind natürlich nationale Leitlinien zu ­begrüßen.

In der gynäkologischen Onkologie unterliegen die therapeutischen ­Ansätze einem ständigen Wandel, insofern sind hier gerade in diesem Bereich aktuelle Leitlinien von besonderem Stellenwert – und der Schwerpunkt „Gynäkologische Onkologie“ in diesem Heft soll Ihnen ein Update vermitteln. Die enge Verzahnung zwischen Ambulanz und Klinik ist auch in der Betreuung onkologischer Patientinnen besonders wichtig. Diagnostik und Nachsorge bleiben ja weiterhin eminent wichtige ­Aufgaben in der Frauenarzt-Praxis, auch aus berufspolitischen Gründen. Die Zeit der COVID-Pandemie hat diesen Stellenwert nochmal bestätigt. Wenn Patientinnen aus Hygienegründen der Praxis fernblieben, sind viele Vorsorgeuntersuchungen entfallen. Selbst symptomatische Patientinnen sind zu Hause geblieben, was zu einem Rückgang der gynäkologisch-onkologischen Diagnosen geführt hat. Dies ist aber mit Sicherheit nicht auf einen Rückgang der Erkrankungen zurückzuführen, sondern auf die fehlende Diagnostik. Unsere Aufgabe in der Praxis wird es sein, die Patientinnen weiterhin zu motivieren, regelmäßig ihre Vorsorgetermine wahrzunehmen und uns bei entsprechender Symptomatik

– etwa einer Postmenopausenblutung – frühzeitig zu kontaktieren.

Wir wünschen Ihnen beim Lesen unseres aktuellen Hefts viel Vergnügen.

Ihr

Unterschrift

Prof. Dr. med. Thomas Römer

Herausgeber

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