- Anzeige -
Fokus Naturmedizin

Traditionelle Chinesische Medizin

Akupunkturwirkung neurophysiologisch nachweisbar

Interview mit Dr. med. Dr. phil. Thomas Ots

17.2.2023

Auf der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur (DÄGfA) in Bad Nauheim wurde ein Paradigmenwechsel in der Akupunktur postuliert: neurophysiologische Belege für die Wirkweise der alt­chinesischen Nadeltherapie. Wir sprechen darüber mit dem Grazer Gynäkologen Dr. med. Dr. phil. Thomas Ots.

Sie sprechen von einer Revolution in der Akupunktur. Was ist passiert?

Es ist eine schleichende Revolution, die vor 120 Jahren begonnen hat. Ihr Ursprung ist die Segmentanatomie, entwickelt vom englischen Arzt Henry Head. Er konnte 1893 in seiner Doktorarbeit darstellen, dass alle Wirbelwesen metamer organisiert sind, also in Segmenten. In diesen Segmenten sind Haut, Musku­latur, Organe und Knochen über Nerven miteinander verbunden. Auch das vegetative Nervensystem mit Sympathicus und Parasympathicus kann man segmental erfassen. Das wurde dann in den 1970er-Jahren von der Wiener Ärztin Dr. Ingrid Wancura-Kampik, heute Bayreuth, auf die Akupunktur übertragen. So richtig Fahrt nimmt das Thema jetzt erst auf. Beim diesjährigen Jahrestreffen der DÄGfA ist die Präsentation auf großes Interesse ­gestoßen.


Was bedeutet denn die segmentale Organisation für die Akupunktur?

Wir können damit nachweisen, dass viele Theoreme der chinesischen Medizin, die wir vorher nur akzeptieren, aber nicht verstehen konnten, segmentanatomisch begründbar sind. Wir haben jetzt eine neurophysiologische Erklärung für die Wirkung der Akupunktur, die die alten chinesischen metaphorischen Erklärungsmodelle als Theoreme ablöst. Das ist ungemein wichtig: Alle universitären Schmerzzentren (> Schmerzmedizin) bieten Akupunktur an, trotzdem ist sie nicht so recht akzeptiert, weil Konzepte wie Yin/Yang, fünf Wandlungsphasen, Qi etc. unseren westlichen Sichtweisen fremd sind. Indem wir jetzt die neurophysiologischen Wirkweisen der Akupunktur verstehen, tritt die Akupunktur aus dem tradierten chinesischen Kontext heraus: Sie ist biologisch begründet und wird damit ein Teil einer weltweiten naturwissenschaftlichen Medizin.


Akupunktur wird von der Schulmedizin oft nicht ernst genommen. Wird sich ihr Status jetzt ändern?

Die bisherige universitäre Ablehnung der Akupunktur folgte ja dem Grundsatz „Was nicht sein darf, nicht sein kann“. Die eindeutigen Erfolge der Akupunktur wurden wegen ihres theoretischen Hintergrundes negiert. Viele Ärztinnen und Ärzte glauben immer noch, dass Akupunktur nicht besser als Placebo sei und dass es keine Studien zur Akupunktur gäbe. Weit gefehlt: Da braucht man nur in pubmed nachzuschlagen. Im April 2022 wurden da 38 007 Akupunkturstudien aufgeführt, davon 8 461 RCT, 2 614 systematische Reviews und 2 266 Metaanalysen. Die übergroße Anzahl dieser Studien zeigt, wie wirksam Akupunktur ist. Der Wirksamkeitsnachweis ist ja längst erbracht.


Ihre Arbeitsgruppe hat auf verschie­dene, besonders effektive Akupunkturpunkte an den Extremitäten hingewiesen. Sie erklären das mit der Embryonalentwicklung. Was passiert da?

Wenn die Extremitäten in der Embryonalentwicklung aus dem Truncus aussprossen, dann legen sich Segmente aneinander, die ursprünglich weiter auseinanderlagen. Dadurch ergibt sich an der Trennschicht, also der Hiatus-Schicht, der Effekt, dass wir mit einer Nadel zwei oder drei verschiedene Segmente beeinflussen können. Dadurch ist die Wirkung breiter. Am Punkt Milz 6 zum Beispiel, der in der chinesischen Medizin Sanyinjiao heißt, also Drei-Yin-Vereinigung, treffen sich drei verschiedene Segmente. Es ist wirklich erstaunlich, wie die Ärzte der chinesischen Klassik das herausgefunden haben – ohne unser heutiges physiologisches Wissen. Vielleicht ist es dadurch erklärbar: Es wurde damals mit viel dickeren, stumpferen Nadeln gearbeitet, die einen stärkeren Reiz setzten, sodass man den Erfolg einer Nadelung viel deutlicher spüren konnte.

TCM Wirbelsäule

Warum setzen sich diese Erkenntnisse jetzt erst durch?

Wenn ein neues Paradigma ein altes ersetzen könnte, gibt es immer eine gewisse Beharrungstendenz. ­Eine bestimmte Zeit bleibt das alte neben dem neuen Paradigma bestehen. In dem Fall der Segmentanatomie sind es nun schon fünfzig Jahre seit den ersten ­Veröffentlichungen von Frau Dr. Wancura-­Kampik. Wir reden immer noch von Meridianen, aber jetzt geht der Wechsel hoffentlich schneller voran.


Können Sie jetzt Ihren Patienten erklären, dass es sinnvoll ist, eine Nadel zum Beispiel in die Hand zu stechen, wenn ein Problem mit der Lunge vorliegt?

Ja, weil die Segmente, die mit der Lunge ­verbunden sind, in die oberen Extremitäten hineinfließen. Wenn wir berühmte Punkte wie Lunge 7 und ­Lunge 9 an Unterarm und Handwurzel nadeln, wirkt das flach gestochen auf die Atemhilfsmuskulatur, wenn wir ­tiefer an die Arteria radialis gehen, die vom Sympathicus umwickelt ist, treffen wir die Lunge als Organ.


Was bedeutet der Segment­­akupunktur-Ansatz bei gynäko­­lo­gi­schen Problemen?

Niere, Blase, Uterus, Adnexe – das ganze kleine Becken inklusive Colon descendenz – werden ­innerviert von den fünf Segmenten TH10 bis L2. Wenn man da nadelt, dann wird alles, was hinter dieser Dermatomschicht liegt, von den Nadeln getroffen. In einer Zystitis-Studie wurden 136 ­Frauen ein Jahr nachbeobachtet und viele berichteten, dass sie seit der Zystitis-Studie auch keine Dysmenorrhoen mehr haben. Das sind die beiden Hauptleiden der Frauen. Die Nadelung ist völlig standardisierbar. Man muss nicht mehr, wie es der große Stolz der chinesischen Medizin ist, ad personam nach Puls- und Zungen-Diagnostik nadeln. Darauf können wir verzichten. Wir setzen einen Reiz in dieses Segmentsystem. Und daraufhin­ ­versucht der Körper, ins Lot zu kommen.

Sind damit die Akupunkturpunkte obsolet?

Nein, auch wenn in einem Segment viele Akupunkturpunkte liegen und man statt Magen 36 nun ­Magen 37 oder 38 nadelt, die alle im selben Seg­ment liegen, verlassen wir uns weiterhin auf die Erfahrung der chinesischen Klassik. Wahrscheinlich gibt es ­Maximalzonen, so wie ja auch Head Maxi­mal­segmente beschrieben hat, die berühmten ­Headschen Zonen. Die meisten Akupunkturpunkte frontal und dorsal liegen genau in diesen Headschen Zonen.


Herr Dr. Ots, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führte Barbara Hauter.

Im Interview

Dr. med. Dr. phil. Thomas Ots
Vizepräsident der Österreichischen Ärztegesellschaft für
Akupunktur sowie Dozent österreichischer und deutscher
Akupunkturgesellschaften

otsnada.at@gmail.com

Ots T et al., Acupuncture in Medicine 2020; DOI 10.1177/0964528419889636

Bildnachweis: Pikovit44, VectorMine (gettyimages)

Lesen Sie mehr und loggen Sie sich jetzt mit Ihrem DocCheck-Daten ein.
Der weitere Inhalt ist Fachkreisen vorbehalten. Bitte authentifizieren Sie sich mittels DocCheck.
- Anzeige -

Das könnte Sie auch interessieren

123-nicht-eingeloggt