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Allgemeinmedizin

Encephalomyelitis disseminata

MS-Forschung ermöglicht zahlreiche neue Threapieoptionen

Dr. med. Martina Wenzel, Prof. Dr. med. Bernhard Hemmer, Prof. Dr. med. Achim Berthele

6.6.2022

In Deutschland leben mehr als 250 000 Menschen mit Multipler Sklerose. Mit innovativen Medikamenten lassen sich Schubfrequenz und messbare Krankheitsaktivität senken. Die verfügbaren Maßnahmen ermöglichen eine individuelle, nach Verlauf, Krankheitsaktivität und persönlichem Risikoprofil adaptierte Behandlung.

Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste autoimmun vermittelte Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), die histopathologisch in unterschiedlicher Ausprägung zu einer Demyelinisierung und axonalen Schädigungen führt. In der Frühphase dominieren entzündliche Veränderungen, später neurodegenerative Prozesse den Krankheitsverlauf. Die Ätiologie der MS ist bis heute unbekannt. Bisherige Studienergebnisse weisen auf eine multifaktorielle Krankheitsentstehung hin. In genomweiten Assoziationsstudien konnte gezeigt werden, dass bestimmte genetische Variationen bei MS-Patienten gehäuft vorkommen und dass wahrscheinlich ein Zusammenspiel dieser ein erhöhtes Erkrankungs­risiko bedingt. Neben genetischen Faktoren spielen Umwelteinflüsse eine Rolle. So werden Vitamin-D-Mangel, Nikotinabusus, Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus und Adipositas als mögliche Risikofaktoren für die Entstehung der Erkrankung diskutiert. Studienergebnisse der vergangenen Jahre lassen vermuten, dass auch eine veränderte Zusammensetzung des Mikrobioms zur Entstehung der Multiplen Sklerose beitragen kann.

McDonald-Kriterien

Die Diagnose der MS wird nach den zuletzt 2017 ­revidierten McDonald-Kriterien gestellt. Neben klinischen Symptomen ist für die Diagnosestellung der Nachweis von örtlich und zeitlich disseminierten MS-typischen Läsionen notwendig. Neben der neurologischen Untersuchung sind für die Diagnosestellung eine Kernspintomografie von Kopf und Rückenmark sowie eine Liquoruntersuchung erforderlich. Seit der Revision der McDonald-Kriterien 2017 kann der Nachweis liquorspezifischer oligoklonaler Banden als Kriterium für die zeitliche Dissemination herangezogen werden.

Therapeutische Optionen

In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden erhebliche Fortschritte in der Behandlung der Erkrankung erzielt. Insgesamt hat sich die Prognose hierdurch über die Jahrzehnte deutlich verbessert, was neben den besseren Behandlungsmöglichkeiten auch auf die frühzeitigere Diagnosestellung zurückzuführen ist. Die Behandlung der Multiplen Sklerose umfasst vier Komponenten: Neben allgemeinen Maßnahmen spielen Schubtherapie sowie Immuntherapie in der Frühphase und die symptomatische Therapie in den späteren Phasen der Erkrankung eine wichtige Rolle. Das breite Angebot an unterschiedlichen MS-Medikamenten erlaubt eine individuellere, an den Krankheitsverlauf angepasste Therapie, geht aber auch mit komplexeren Behandlungsanforderungen einher. Neue Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich der Immuntherapie führten zur Erstellung einer neuen konsensbasierten S2k-Leitlinie in 2021. Im folgenden Abschnitt werden die wichtigsten Auszüge aus der Leitlinie zur aktuellen Therapie der Multiplen Sklerose zusammengefasst.

Allgemeine Maßnahmen

Neben der medikamentösen Behandlung kommt nicht medikamentösen Maßnahmen eine wichtige Bedeutung zu. So gehen Übergewicht und Nikotinabusus mit einer schlechteren Prognose der Erkrankung einher. Auch wenn es keine gesicherten Erkenntnisse zur optimalen Ernährung bei MS gibt, wird allgemein eine ausgewogene, mediterrane Kost empfohlen. Körperliches und geistiges Training verbessern nicht nur das Outcome nach Schüben, sondern bauen auch Reserven im Hinblick auf den langfristigen Verlauf der Erkrankung auf. Da ein Vitamin-D-Mangel möglicherweise Effekte im Hinblick auf die Wirksamkeit von MS-Therapeutika hat, kann bei niedrigem Vitamin-D-Spiegel eine Substitution sinnvoll sein.

Schubtherapie

Zur Behandlung des MS-Schubs stehen Glukokortikosteroide (GKS) und die Apheresetherapie (Plasmapherese und Immunadsorption) zur Verfügung. Die Indikation zur Schubtherapie mittels Glukokortikosteroide soll in Abhängigkeit von der Schubschwere, Verträglichkeit und Wirksamkeit einer etwaigen vorherigen hoch dosierten GKS-Therapie, Komorbidi­täten und relativen Kontraindikationen gestellt werden. Eine hoch dosierte i. v. Applikation von GKS gilt als etablierter Therapiestandard. Eine GKS-Therapie sollte möglichst früh nach Beginn der klinischen Symptomatik mit Methylprednisolon (MP) in einer Dosis von 500 bis 1 000 mg/Tag über drei bis fünf Tage durchgeführt werden. Obgleich die i. v. Gabe klinischer Standard ist, scheint eine orale Gabe nicht unterlegen zu sein und stellt somit eine Alternative dar. Bei unzureichendem Effekt der Schubtherapie und anhaltenden neurologischen Defiziten kann eine Eskalation der Therapie erwogen werden. Hierfür können eine erneute hoch dosierte MP-Therapie mit bis zu 2 000 mg/Tag über drei bis fünf Tage oder alternativ bzw. konsekutiv eine Plasmapherese oder Immunadsorption zum Einsatz kommen.

Immuntherapie

Seit fast 30 Jahren stehen Immuntherapeutika zur Behandlung der schubförmig verlaufenden MS und seit einigen Jahren der progredienten MS zur Verfügung. Viele Studien deuten darauf hin, dass die Therapieeffekte besonders groß in der Frühphase der Erkrankung bzw. im jüngeren Lebensalter sind. Mit zunehmender Krankheitsdauer, höherem Alter und bei progredienten Verläufen nehmen die Therapieeffekte ab bzw. verschwinden komplett. Die zur Verfügung stehenden Immuntherapeutika können keine Heilung herbeiführen, aber den Verlauf der MS beeinflussen. Die Therapieentscheidung und die Wahl des Immuntherapeutikums unterliegen daher immer einer Abwägung zwischen mutmaßlichem Nutzen und potenziellen Risiken bzw. Nebenwirkungen. Darüber hinaus wissen wir heute, dass der Krankheitsverlauf der MS sehr variabel ist. So zeigen Studien einerseits einen langfristigen Nutzen einer frühen Immuntherapie nach Diagnosestellung, belegen aber auch, dass ein Teil der Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom oder MS auch ohne Immuntherapie einen milden Verlauf haben kann.

In der neuen MS-Leitlinie werden Kriterien für den Beginn von Immuntherapien in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung vom radiologisch isolierten Syndrom bis zur sekundär progredienten MS definiert. Zudem werden die Immuntherapeutika nach ihrer mutmaßlichen Wirkstärke in drei Wirksamkeitskategorien eingeteilt. Diese Gruppierung dient als Hilfestellung, unter Berücksichtigung der Krankheitsaktivität und potenziellen Nebenwirkungen die für jeden Patienten bestmögliche Therapie zu finden (Abb.). In der Regel erfolgt eine Ersttherapie mit einem Medikament aus der Wirkkategorie 1 (moderate Wirksamkeit). Liegen Kriterien vor, die bereits bei Diagnosestellung auf einen schweren MS-Verlauf hindeuten, kann dies eine Erstbehandlung mit einem Medikament der Wirkkategorie 2 (hochwirksam) oder 3 (höchstwirksam) begründen (Abb.). Grundsätzlich soll die Immuntherapie Krankheitsaktivität, insbesondere Schubaktivität und Krankheitsprogression, aber auch die Entwicklung neuer Läsionen im ZNS vollständig unterdrücken. Um dies sicherzustellen, sind engmaschige klinische Untersuchungen und MRT-Verlaufskontrollen angezeigt, um subklinische Krankheitsaktivität frühzeitig zu detektieren. In der Regel werden Schubaktivität oder der zweimalige Nachweis neuer Läsionen als Therapieversagen gewertet. Je nach Ausmaß und Schwere der Krankheitsaktivität sollte in diesem Fall auf ein Medikament der Kategorie 2 oder 3 eskaliert werden.

Die Therapie der progredienten Verlaufsformen gestaltet sich schwieriger, da die Effekte der Immuntherapeutika deutlich geringer sind als bei schubförmig-remittierendem Verlauf. Grundsätzlich gilt, dass der Nachweis entzündlicher Aktivität mit einer größeren Wirksamkeit der Immuntherapie einhergeht und somit ein Argument für das Einleiten einer Immuntherapie darstellt.

Bei der primär progredienten MS (PPMS) gilt der Nachweis von neuen Läsionen in der MRT als Kriterium für entzündliche Aktivität. Insbesondere scheinen jüngere Patienten und solche mit kurzem, aber raschem Krankheitsverlauf zu profitieren. Die Behandlung erfolgt mit den CD20-Antikörpern Ocrelizumab oder Rituximab. Für die letztgenannte Substanz liegt keine Zulassung vor, sodass der Einsatz nur off-label möglich ist.

Auch bei der sekundär progredienten MS (SPMS) sollten Immuntherapeutika dann eingesetzt werden, wenn entzündliche Aktivität in Form von Schüben oder neuer Läsionen vorliegt. Neben Beta-Interferonen und Cladribin kommen CD20-Antikörper (z. B. Ocrelizumab oder off-label Rituximab) und Siponimod zum Einsatz. Bei Fehlen jeglicher Zeichen entzündlicher Aktivität sollte in der Regel keine Immuntherapie eingeleitet werden.

Grundsätzlich sollte eine begonnene Immuntherapie langfristig fortgeführt werden. Die Leitlinie hat aber zum ersten Mal Empfehlungen definiert, wann und unter welchen Bedingungen eine Immuntherapie beendet oder deeskaliert werden kann. So kann bei Patienten, die vor Beginn einer Immuntherapie eine geringe Krankheitsaktivität aufwiesen oder unter einem Medikament der Wirkstärke 1 einen stabilen Verlauf zeigten, nach einem Zeitraum von mindestens fünf Jahren eine Therapiepause erwogen werden. Neben der mutmaßlichen Schwere des Krankheitsverlaufs vor Beginn der Immuntherapie, dem Krankheitsverlauf und Alter sollte stets auch der Patientenwunsch berücksichtigt werden. Patienten sollten über Nutzen und Risiko einer Deeskalation oder Absetzen der Therapie ausführlich aufgeklärt werden. Da in einzelnen Fällen ein Absetzen der Therapie zu erheblicher Krankheitsaktivität führen kann, sind engmaschige Kontrolluntersuchungen von zentraler Bedeutung, um bei Wiederauftreten von Krankheitsaktivität frühzeitig reagieren zu können.

Symptomatische Therapie

Die Behandlung von Symptomen stellt eine weitere Säule der MS-Therapie dar. Insbesondere bei progredienten Verläufen spielt die symptomatische Therapie eine wichtige Rolle. Zu den häufigsten MS-Symptomen zählen Spastik, Gangstörung, Ataxie und Tremor, Fatigue, kognitive Defizite, sexuelle Störungen, neurogene Blasen- und Darmstörungen, Augenbewegungsstörungen, Schmerzen und epileptische Anfälle. Es kommen medikamentöse Therapien wie Antispastika oder Anticholinergika, aber auch nicht medikamentöse Therapieformen wie Physiotherapie zum Einsatz. Betroffene sollten zudem auf die Möglichkeiten einer multimodalen Rehabilitation aufmerksam gemacht werden.

FAZIT: In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden erhebliche Fortschritte in der Behandlung der Multiplen Sklerose erzielt. Mit den Marktzulassungen von Siponimod und Ocrelizumab stehen nun auch neue Behandlungsmöglichkeiten für die sekundär bzw. primär chronisch progrediente Verlaufsform zur Verfügung. Neuerungen auf dem Feld der Immuntherapie ermöglichen somit eine individuelle, an den Krankheitsverlauf des Patienten angepasste Therapie.

Korrespondierende Autorin

Dr. med. Martina Wenzel
Assistenzärztin
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Klinikum rechts der Isar
der TU München

martina.wenzel@mri.tum.de

Literatur bei den Autoren

Bildnachweis: privat
Mod. nach Hemmer B et al., S2k-Leitlinie 2021; in: DGN (Hrsg.), Leitlinie für Diagnostik und Therapie in der Neurologie

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