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Gynäkologie

Evaluation und Wiederherstellung

Postpartale Strategien für den Beckenboden

Dr. med. Sören Lange

21.10.2022

Störungen der Beckenbodenfunktion im Zuge der Schwangerschaft sind sehr häufig und betreffen ungefähr ein Drittel bis die Hälfte aller Frauen. Da viele dieser Beschwerden sich zu chronischen Problemen entwickeln können, ist eine frühzeitige Evaluierung notwendig und eine suffiziente Therapie ausschlaggebend.

Die meisten Probleme, die den Beckenboden betreffen, nehmen ihren Anfang bereits vor oder während der Schwangerschaft und daher ist eine Grundkenntnis über die Ursachen notwendig. Nur so können die richtigen Diagnosen gestellt und Therapien eingeleitet werden.

Der Beckenboden während Schwangerschaft und Geburt

Wie viele Organe unterliegt auch der Beckenboden Veränderungen in der Schwangerschaft. Hormonelle und mechanische Einflüsse führen zu Adaptationen des Muskel- und Bindegewebes, um den Beckenboden auf die Geburt vorzubereiten. Aus evolutionärer Sicht kommt erschwerend hinzu, dass die Aufrichtung des Menschen vom Vierfüßler- in den aufrechten Gang eine Verlagerung des Körperschwerpunktes zur Folge hatte.

Dadurch wurde der Hiatus urogenitalis zu einer Schwachstelle im menschlichen Körper und er muss ein Leben lang gegen auf ihn einwirkende Kräfte arbeiten. Gleichzeitig muss er aber auch bei Frauen die Geburt des Kindes ermöglichen. Somit ergibt sich eine Diskrepanz zwischen Verhinderung des Austretens der inneren Organe, indem der Hiatus klein bleibt, und einem großen Hiatus, um das Durchtreten des Kindes möglich zu machen.

Durch den aufrechten Gang wurde der Hiatus urogenitalis zur Schwachstelle.

Interessanterweise hat der Beckenboden also eigentlich eine zentrale Bedeutung für die Schwangerschaft bzw. die Geburt. Gleichzeitig wird ihm allerdings nur wenig Beachtung geschenkt, weder vor, während, noch nach der Schwangerschaft. Dies zeigt sich z. B. durch die Abwesenheit von expliziten Beckenbodenuntersuchungen im Mutterpass. So können Frauen mehrere Geburten gehabt haben, ohne dass sie je nach Beckenbodenproblemen befragt oder untersucht wurden. Es gibt zwar die Möglichkeit, solche Probleme zu dokumentieren, doch unterliegt dies der Freiwilligkeit der jeweiligen Untersucher.

Verletzungen des Beckenbodens durch Schwangerschaft und Geburt

Verletzungen am Beckenboden treten sowohl in der Schwangerschaft als auch bei Geburt auf. Die meisten Risikofaktoren für Schäden am Beckenboden sind bekannt: vaginal-operative Entbindungen (v. a. Zangengeburt), hohes kindliches Geburtsgewicht, hoher mütterlicher BMI, verlängerte Austreibungsphase bei der Geburt, mütterliches Alter bei der Geburt. Die Überdehnung des Gewebes können sowohl zu nervalen, muskulären als auch Bindegewebsschäden führen. Nervale Schäden entstehen durch direkte Verletzung der Nerven oder durch Überdehnung mit folgend einsetzender Demyelisierung und Denervierung (v. a. N. pudendus). Dies betrifft bis zu 40–80 % aller vaginaler Entbindungen.

Die meisten Risikofaktoren für Schäden am Beckenboden sind bekannt.

Wichtig ist, dass der Grad des Dammrisses nur teilweise entscheidend für das Auftreten von Beckenbodenerkrankungen ist, während Verletzungen des M. sphincter ani, des M. levator ani sowie der endo­pelvinen Faszie entscheidender sind. Verletzungen am M. sphincter ani bzw. hochgradige Dammrisse (Grad 3–4) entstehen oft durch ein direktes Geburts­trauma. Sie werden meist sehr rasch in der postpartalen Periode symptomatisch und können die Lebensqualität der Frauen stark beeinträchtigen.

Höhergradige Dammrisse müssen möglichst verhindert werden, noch wichtiger ist aber eine suffiziente Versorgung und Nachbetreuung. Dies passiert aber nur in weniger als 50 % der Fälle. Eine Patientin mit direkt nach der Geburt suffizient versorgtem Analsphinkterdefekt hat allerdings ein deutlich gesenktes Risiko, weiterhin Beschwerden zu haben, als eine Patientin mit initial schlechter Versorgung.

Verletzungen des M. levator ani und der endopelvinen Faszie haben ebenfalls einen großen Einfluss auf das Auftreten von Beckenbodenpathologien, ­jedoch sieht man diese Verletzungen meist nur ­indirekt nach einer Geburt. Bildgebungsstudien ­haben in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass vor allem Verletzungen des M. levator ani für das Auftreten von Beckenbodenpathologien verantwortlich sind. Diese umfassen sowohl Einrisse des Muskels als auch ganze Abrisse an seiner Insertionsstelle am hinteren Rand der Symphyse. Hierdurch vergrößert sich der Hiatus urogenitalis vor allem unter Belastung. Problematisch ist einerseits, dass Symptome erst Jahre später auftreten können. Andererseits kennt man diese Defekte zwar schon seit über 100 Jahren, eine gezielte Reparatur ist aber auch heute noch nicht möglich.

Die Geburt stellt eine der wenigen Situationen in der Medizin dar, in der ein Trauma oft schon Monate vor seinem Auftreten absehbar ist. Trotzdem versagt bis heute die Fachwelt in der suffizienten Präparation der Frauen auf dieses Ereignis. Die Anzahl an Frauen, die vor der Geburt ein aufklärendes ­Gespräch über mögliche auftretende Probleme haben, ist sehr gering.

Frauen sollten explizit über mögliche Probleme im Kreißsaal und die existierenden Lösungsstrategien aufgeklärt werden. Dies betrifft sowohl die Strategien der fötalen Extraktion mittels Instrumentalentbindung oder Kaiserschnitt als auch der möglichen Verletzungen des Beckenbodens. Es wird oft fälschlicherweise angenommen, dass Frauen sich selbst ausreichend informieren und daher über alle wichtigen Informationen verfügen, um eine eigenständige Entscheidung zu fällen. Dies ist aber leider nur in wenigen Situationen der Fall.  

Der Beckenboden nach der Schwangerschaft

Nur etwa 10 % aller Frauen reden bei postpartalen Kontrollen von selbst über Beckenbodenprobleme. Während der Schwangerschaft weist aber ungefähr die Hälfte aller Frauen eine Harninkontinenz auf und im ersten Jahr nach Entbindung sind noch ca. 20 % inkontinent. Dies bedeutet also, dass jede dritte bis fünfte Frau einen fortbestehenden Harnverlust aufweist. Aus rezenten Studien ist bekannt, dass 75 % dieser Frauen die Symptome auch noch mehr als zehn Jahre später aufweisen.  Den größten Anteil stellt hierbei die Belastungsinkontinenz mit zwei Drittel der Fälle dar. Eine überaktive Blase oder eine Mischharninkontinenz kommen deutlich seltener vor.

Anale Inkontinenz ist etwas seltener, betrifft aber auch ca. 8 % aller Frauen, also immerhin fast jede zehnte Frau. Besonders Analinkontinenz ist noch immer ein sehr stigmatisiertes Krankheitsbild und nur sehr wenige Frauen trauen sich, mit ihren Ärzten darüber zu reden, geschweige denn, sie werden hierzu gezielt von ihren Ärzten befragt.

Ein behandlungsbedürftiger Beckenorganprolaps tritt seltener auf als Harn- und Analinkontinenz und betrifft ca. 4,0 % aller Frauen. Allerdings sind Defekte gerade im vorderen Kompartiment mit Harninkontinenz und im hinteren Kompartiment mit Defäkationsproblemen vergesellschaftet. So kann eine Patientin eine nicht stark ausgeprägte anatomische Senkung der Organe haben bei gleichzeitig sehr ausgeprägter Inkontinenz-Symptomatik.

Leider wird dem Beckenboden, wie schon in der Schwangerschaft, auch postpartal wenig Beachtung geschenkt. In der Schwangerschaftsnachsorge in Deutschland findet sich zurzeit keine spezifische Untersuchung oder Anamnese der Beckenbodenfunktion. Dies führt dazu, dass eine Patientin darauf angewiesen ist, dass die sie betreuende ärztliche Fachperson ein Interesse hat, Beckenbodenprobleme aktiv zu evaluieren. Eine Pathologie, die immerhin mindestens jede dritte Frau nach der Entbindung ­betrifft, wird also nur unzureichend obligatorisch ­abgeklärt. Um den Frauen und ihren Beschwerden aber gerecht zu werden, benötigt es eine aktive Problemsuche durch das medizinische Personal, denn nur so können den Frauen die entsprechenden ­Therapien zugeführt werden.

Therapiemöglichkeiten bei Beckenbodenproblemen rund um die Schwangerschaft

Es gehört heutzutage zur Routine, Frauen nach der Schwangerschaft eine Beckenbodentherapie anzubieten. Diese Therapie findet in der Regel in Gruppen­kursen statt, kann aber auch individuell von spezialisierten Physiotherapeuten durchgeführt werden. Sie lässt sich bei nahezu allen Pathologien anwenden und kann Symptome lindern oder verbessern. Ein entsprechendes Training könnte auch schon in der Schwangerschaft erfolgen und dieses Vorgehen hat in kleinen Studien bei nicht inkontinenten Frauen eine Senkung der postpartalen Inkontinenzraten ­gezeigt. Bezüglich Frauen, die bereits Symptome in der Schwangerschaft aufweisen oder erst post­partal beginnen, sind die Daten unzureichend, um einen Effekt nachzuweisen.

Generell ist der Effekt leider schlechter als außerhalb der Schwangerschaftsperiode, insbesondere bei Harninkontinenz. Eine Erklärung hierfür hat man noch nicht finden können, jedoch geben Frauen in Befragungen als Gründe für nicht durchgeführte Übungen häufig an, zu wenig Zeit zur Verfügung zu haben. Der Umfang eines suffizienten Trainings ­sollte ca. 30 Minuten pro Tag betragen.

Eine spezifische Untersuchung oder Anamnese der Beckenbodenfunktion ist im Mutterpass nicht vorgesehen.

Operative Therapien spielen in den ersten zwölf ­Monaten hauptsächlich bei Stuhlinkontinenz bei nachgewiesenem Sphinkterdefekt und bei Fistelbildung eine Rolle. Alle sonstigen Pathologien sollten erst nach dem ersten Jahr nach der Entbindung operativ saniert werden. Prinzipiell gibt es einen gewissen Spielraum für Botulinumtoxin-Injektionen bei überaktiver Blase und Bulking Agents bei Belastungsharninkontinenz, doch ist hier der Erfahrungswert bei Frauen kurz nach der Entbindung noch gering. Außerdem müssen operative Sanierungen immer auch unter dem Blickwinkel einer möglichen weiteren Schwangerschaft gesehen werden, da diese einen operativen Erfolg eventuell nachträglich ­negativ beeinflussen könnte. Medikamentös gibt es nur einen sehr eingeschränkten Spielraum und dies hauptsächlich bei überaktiver Blase.

Eine bis jetzt wenig angewandte (und noch wenig studierte) Therapie sind intravaginale Pessare. Hier zeigte eine sehr rezente Studie deutlich bessere ­Resultate als das Beckenbodentraining. Diese Ergebnisse müssen aber noch in weiteren Studien bestätigt werden. Handhabung und Gebrauch sind für die meisten jungen Frauen leicht zu erlernen und bieten daher eigentlich eine ideale Therapieoption. Noch fehlt es hier aber an ausreichenden Daten, um einen breitflächigen Einsatz zu empfehlen.

Kann Beckenbodentraining in der Schwangerschaft die Inkontinenzrate in der Zeit danach senken?

Zukünftige Entbindungen

Eine wichtige Diskussion mit der Patientin ist auch bezüglich weiterer Schwangerschaften. Viele Frauen stellen sich die berechtigte Frage, ob eine erneute Schwangerschaft die Symptome verschlechtern kann. Hier gibt es eher positive Nachrichten: weitere Schwangerschaften haben weniger Effekt auf die Symptome als die erste Schwangerschaft hatte. Der größte und wichtigste Schaden entsteht also nicht durch viele Schwangerschaften, sondern vor allem durch die erste. Die aktuelle AWMF-Leitlinie zur weiblichen Harninkontinenz von 2021 empfiehlt klar, dass „eine elektive Sectio zur Reduktion des Risikos einer Harninkontinenz soll aufgrund der Risiko-Nutzen-Konstellation nicht empfohlen werden [...]. Dennoch soll Schwangeren mit erhöhtem Risiko für eine postpartale Beckenbodeninsuffizienz eine spezifische Aufklärung angeboten werden, um Nutzen und Risiko einer primären Sectio abzuwägen“. Eine Hilfestellung können Tools wie der UR-CHOICE-Rechner bieten, mit dem individuell auf die Patientin abgestimmt ihr Risiko berechnet werden kann (https://riskcalc.org/UR_CHOICE/). Es sollte aber generell der Patientin überlassen bleiben, inwiefern ihre Beschwerden die nächste Entbindung beeinflussen sollten.

Fazit:

Es wäre wünschenswert, wenn Frauen mit erhöhten Risiken für Beckenbodenpathologien schon während der Schwangerschaft identifiziert, hierüber aufgeklärt und die Geburten dementsprechend geplant werden.

Der Autor

Dr. med. Sören Lange
Arbeitsgruppe Urogynäkologie
Universitätsklinik für Frauenheilkunde
A-1090 Wien

soeren.lange@meduniwien.ac.at

Literatur beim Autor

Bildnachweis: privat

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