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Neurologie & Psychiatrie

Phantomschmerztherapie

Abgetrennte Gliedmaße als zum Körper zugehörig betrachten

Simon Desch, Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Herta Flor

Phantomschmerz bezeichnet Schmerzen in einem nicht mehr existierenden Körperteil. Während man früher die Ursache von Phantomschmerzen in Veränderungen im Stumpf sah, gibt es heute Hinweise, dass Veränderungen im Gehirn eine wichtige Rolle spielen. Diese Erkenntnisse ermöglichen die Entwicklung neuer Therapiemethoden.

Nach einer Amputation, sei es aufgrund eines Unfalls oder aufgrund einer Erkrankung, berichten betroffene Menschen fast immer, dass sie den nicht mehr vorhandenen Körperteil weiterhin spüren können. Bei ca. 60–80 % der Menschen, die ein Körperteil verloren haben, treten direkt nach der Amputation oder auch mit Verzögerung von einigen Monaten bis Jahren Phantomschmerzen auf. Meist tritt das Phänomen nach Amputation von Gliedmaßen wie Armen oder Beinen auf, mitunter jedoch auch nach einer Brustamputation oder Zahnentfernung. Darüber hinaus ist es nicht ungewöhnlich, dass das Phantomglied in einer ungewöhnlichen Position wahrgenommen wird oder es in der Wahrnehmung verkürzt und zum Stumpf „hingewandert“ erscheint. Wichtig ist die Unterscheidung von Phantomschmerz (Schmerzen im nicht mehr vorhandenen Körperteil) und Stumpfschmerzen (Schmerzen im noch vorhandenen benachbarten Körperteil). Obwohl Phantomschmerzen und Stumpfschmerzen oft zusammen auftreten, haben sie dennoch unterschiedliche Ursachen.

Veränderungen im Stumpf, wie eine schlechte Vernarbung bzw. Störungen an den Blutgefäßen oder aber an den Nerven, die zum Rückenmark ziehen, können ein Rolle bei Phantomschmerzen spielen und sollten untersucht werden. Wissenschaftliche Befunde weisen jedoch darauf hin, dass Phantomschmerzen mit deutlichen Veränderungen im Gehirn einhergehen. Die Repräsentation des amputierten Gliedes im sensomotorischen Kortex bleibt zwar bestehen, es findet jedoch eine Reorganisation statt, da der Zustrom aus dem amputierten Glied ausbleibt. Die entsprechenden Areale erhalten vermehrt Einstrom aus Körperteilen, deren Repräsentation topografisch nahe der des amputierten Gliedes liegt. Je größer diese Reorganisation, desto stärker ist der Phantomschmerz. Auch Regionen im Gehirn, die eher mit der emotionalen Komponente von Schmerz zu tun haben, können sich verändern. Diese Reorganisation im Gehirn ist besonders ausgeprägt, wenn im betroffenen Körperteil bereits vor der Amputation Schmerzen auftraten und eine Art zentrales Schmerzgedächtnis hinterlassen haben. Dann kann es nach der Amputation zum Verlust schmerzhemmender Mechanismen und damit dem Auftreten früherer Schmerzen im Phantomglied kommen. Stress oder eine depressive Stimmung vor und nach der Amputation können die Wahrnehmung von Phantomschmerz zusätzlich negativ beeinflussen.

Neuere Therapieoptionen nachhaltiger

Wie andere neuropathische Schmerzsyndrome spricht auch der Phantomschmerz auf Medikamente an, die die Funktion des Zentralnervensystems beeinflussen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Erfolge der medikamentösen Behandlung begrenzt sind. Berichte über zumindest teilweise erfolgreiche Therapien gibt es zu Antidepressiva, Opioiden und anderen psychoaktiven Medikamenten. Die Wirkung einer medikamentösen Behandlung hält jedoch nur für die Dauer ihrer Einnahme an, die Ursache der Schmerzen wird nicht beseitigt, es besteht jedoch die Gefahr von Nebenwirkungen. Liegen Veränderungen am Stumpf vor, können auch Injektionen oder auch lokale Reizverfahren erfolgreich sein. Aufgrund der Befunde zur Reorganisation der Repräsentation von Körperteilen im somatosensorischen Kortex (Tastrinde) im Gehirn von Menschen mit Phantomschmerz erscheint es sinnvoll, mit der Schmerztherapie genau hier anzusetzen. Es gibt verschiedene therapeutische Zugänge, die es sich zunutze machen, dass strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn durch gezielte Stimulation angeregt werden können. So wird zum Beispiel durch das Tragen einer myoelektrischen Prothese die Hirnregion, die aufgrund der Amputation verändert wurde, wieder aktiviert. Vermutlich trägt dies zu einer Umkehr schmerzauslösender neuroplastischer Prozesse bei. Träger myoelektrischer, nicht jedoch kosmetischer, Prothesen haben deutlich weniger Phantomschmerz, insbesondere wenn sie die Prothese als zugehörig zum eigenen Körper wahrnehmen. Aktivität in der betroffenen Hirnregion kann auch durch das Spiegeltraining verändert werden (Abb. 1). Dabei wird ein Spiegel so aufgestellt, dass der Betroffene auf der Seite des amputierten Körperteils das Spiegelbild des noch vorhandenen Körperteils der gegenüberliegenden Seite sieht. Dann werden mit der intakten Extremität (Arm oder Bein) Bewegungen durchgeführt, während die Betroffenen diese Bewegungen als Bewegungen des Phantomglieds im Spiegel sehen. Dadurch wird der Eindruck erzeugt, dass das amputierte Glied wieder vorhanden ist und erneut ein Reizeinstrom in der jeweiligen Hirnregion erzeugt. Als Folge normalisiert sich die Repräsentation des Körperteils in der Tastrinde und die Phantomschmerzen gehen zurück. Der Effekt ist umso stärker, je mehr das Spiegelbild der Extremität mit der Wahrnehmung der Betroffenen übereinstimmt. Neue Methoden nutzen den Einsatz erweiterter Realität (Abb. 2).

Mithilfe einer Brille, wie sie für Videospiele genutzt wird, kann die Darstellung der Hand der Empfindung des Betroffenen angepasst werden. Muskelbewegungen im Stumpf werden, ähnlich wie bei myoelektrischen Prothesen, aufgezeichnet und dienen dazu, die Bewegungen der eingeblendeten Hand zu steuern. Doch auch die reine Vorstellung von Bewegungen der Phantomgliedmaße hat sich als hilfreich herausgestellt. Auch der Einsatz nicht invasiver Stimulationsmethoden, z. B. der transkraniellen Magnetstimulation oder der transkraniellen Gleichstromstimulation, könnte sich in Kombination mit Trainingsverfahren positiv auf die Aktivität im betroffenen Hirnareal auswirken. Als wichtig bei allen Behandlungen hat sich die Annahme des Phantomgliedes als zum Körper gehörig erwiesen.

Der Autor

Simon Desch
Diplom-Psychologe
Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg

simon.desch@zi-mannheim.de

Die Autorin

Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Herta Flor
Wissenschaftliche Direktorin
Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg

herta.flor@zi-mannheim.de

Literatur bei den Autoren

Bildnachweis: Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg

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