Auch wenn die spezifische Diagnostik und Therapie bei Myasthenia gravis (MG) erfahrenen Neurologen obliegt, kommt Hausärzten nicht nur eine Rolle bei der Verdachtserhebung zu. Wenn sie ihre Patienten gut führen und aufmerksam die Einnahme der Medikamente kontrollieren, schützen sie sie vor Exazerbationen und Komplikationen.
Oft fragen Patienten bei ersten, noch unklaren Myasthenie-Symptomen zuerst den Hausarzt um Rat. Primärversorger tragen aber auch wesentlich zur Krankheitskontrolle bei: Indem sie die Gesamtmedikation ihrer Patienten steuern und sie unterstützen, Trigger zu vermeiden, können sie sie vor Exazerbationen und lebensbedrohlichen myasthenen Krisen bewahren. Bei dieser schweren Komplikation sterben heute weniger als 5 % der Betroffenen – vor 50 Jahren waren es noch mehr als die Hälfte [1]. Mit den heutigen Therapiemöglichkeiten ist die Lebenserwartung bei MG fast normal. Die weltweite Prävalenz dieser heterogenen Gruppe von Erkrankungen von 78 pro Million Einwohner [2] variiert. In Asien ist die Hälfte der Erkrankten jünger als 15 Jahre, in westlichen Ländern ist die MG bei Kindern selten. Unter Jüngeren sind Frauen, ab dem 50. Lebensjahr Männer häufiger betroffen. Infektionen, Impfungen, Operationen und Medikamente können eine MG bei genetisch Prädisponierten auslösen und ebenso wie emotionaler Stress, übermäßige körperliche Anstrengung oder sich verschlechternde chronische Erkrankungen Exazerbationen triggern. Wichtig ist, Patienten zur regelmäßigen Einnahme ihrer MG-Therapeutika anzuhalten, sie aber auch zu erinnern, jede neue Medikation abzusprechen. Vorsicht ist etwa bei Betablockern, Calciumantagonisten, Statinen, Hydroxychloroquin, Magnesium und vielen Antibiotika angebracht. Wann immer auf risikobehaftete Medikamente nicht verzichtet werden kann, muss auf eine etwaige klinische Verschlechterung geachtet werden [3].
Bei MG stören Antikörper (Ak) gegen postsynaptische Membranproteine, vornehmlich gegen den nikotinischen Acetylcholinrezeptor (nAChR), die muskel-spezifische Tyrosinkinase (MuSK) und low density lipoprotein receptor-related protein 4 (LPR4), die neuromuskuläre Erregungsübertragung. Folge ist eine Muskelschwäche. Dass sie bei Aktivität zunimmt, unterscheidet die MG vom paraneoplastischen Lambert-Eaton-Syndrom, bei dem die Schwäche bei Aktivität nachlässt. Bei 85 % der Betroffenen sind zu Beginn die äußeren Augenmuskeln betroffen, mit Doppelbildern und Ptosis. Eine bulbäre Muskelschwäche und womöglich Probleme beim Kauen und Schlucken, Heiserkeit oder Dysarthrie weisen 15 % initial auf. Bei Beteiligung der Gesichtsmuskeln wirkt das Gesicht ausdruckslos. Schwache Halsmuskeln machen es schwer, den Kopf zu heben. Die Myasthenie an den Extremitäten ist proximal betont, mit rascher Erschöpfung beim Treppensteigen, betrifft aber die oberen Extremitäten stärker. Manche Patienten berichten über Probleme beim Schreiben. Schlimmstenfalls sind Interkostalmuskeln und Zwerchfell beteiligt. Dann drohen Ateminsuffizienz und Aspiration. Solche myasthenen Krisen sind lebensbedrohlich [3]. Da nur nAChR betroffen sind, fehlen autonome Symptome wie Palpitationen, Darm- oder Blasenbeschwerden. Pupillenreaktionen, Muskeleigenreflexe und Sensibilität sind ungestört. Wegen der Symptomfluktuation zeigt sich die reduzierte Muskelkraft bei der Untersuchung mitunter erst bei vermehrter Belastung. Kühlen hilft: Legt man ein Eispack für 2–5 Minuten auf die Augenpartie, lässt die Ptosis nach [3]. Für die Diagnostik können elektrophysiologische Untersuchungen und Bildgebungen von Orbita, Schädel oder Brustkorb indiziert sein. Gestellt wird die Diagnose klinisch. Labortests dienen der Bestätigung: Die sehr spezifischen nAChR-Ak sind bei vier Fünftel der Patienten mit generalisierter MG, aber nur bei der Hälfte mit okulärer MG nachweisbar. MuSK-Ak haben 5–10 % der Patienten. Antikörper gegen quergestreifte Muskulatur finden sich bei 30 % und eignen sich, vor allem bei Jüngeren, als Marker für ein Thymom, das 10–15 % der Fälle zugrunde liegt. Ferner werden eine rein okuläre und eine MuSK-Ak-positive MG unterschieden [4]. Manche Autoren betrachten auch die AChR- und MuSK-Ak-negative Form als eigenständig [3].
Symptomatisch erhalten Patienten Acetylcholinesteraseinhibitoren wie Pyridostigmin und bei unzureichender Wirkung Immunsuppressiva, primär Glukokortikoide (GC) und Azathioprin, das offiziell bei MG zugelassen ist. Mittel zweiter Wahl sind etwa Ciclosporin, Methotrexat, Mycophenolat, Tacrolimus und bei schwerem Verlauf Cyclophosphamid oder monoklonale Antikörper wie Rituximab oder das bei AChR-Ak-positiver MG offiziell zugelassene, gegen Komplement C5 gerichtete Eculizumab. Für eine schnelle Wirkung, etwa bei myasthener Krise, kommen i. v. Immunglobuline oder eine Plasmapherese infrage. Eine Thymektomie ist außer bei Thymom zeitig bei Frühmanifestation einer AChR-Ak-positiven MG und bei komplett seronegativen Patienten indiziert. Probleme bereiten Aspirationspneumonien und Therapienebenwirkungen, wie Langzeitfolgen der GC-Einnahme und Infektanfälligkeit. Lymphoproliferative Malignome können vorkommen. Eine Überdosierung mit Cholinesteraseinhibitoren kann zur cholinergen Krise führen, mit Krämpfen, Muskelschwäche, Faszikulationen, Lähmungen, Diarrhoen, vermehrtem Tränen- und Speichelfluss und Verschwommensehen.
Prof. Dr. med. Berthold Schalke
Oberarzt
Ambulanz für Neuromuskuläre
Übertragungsstörungen
Zentrum für Neurologie
medbo Bezirksklinikum Regensburg
„Allein zu den erworbenen Myasthenien zählen mehr als zehn Formen. Pathogenese und Manifestationen unterscheiden sich zum Teil wie Tag und Nacht. Die sehr guten Leitlinien werden gerade überarbeitet. Zudem gibt es von der Deutschen Myasthenie Gesellschaft gemeinsam mit dem BQS Institut für Qualität und Patientensicherheit zertifizierte Myasthenie-Zentren. Der Hausarzt begleitet die Patienten, indem er die Kontrollen unter der Medikation steuert, und beobachtet, ob sich die Symptome bessern. Verschlechtern sie sich, sollte man umgehend Rat suchen, sei es in einem Myasthenie-Zentrum oder bei einem entsprechend erfahrenen niedergelassenen Neurologen. Einmal im Jahr ist eine fachärztliche Verlaufskontrolle empfehlenswert.“
[1] Alshekhlee A et al., Neurology 2009; 72: 1548–1554
[2] Carr AS et al., BMC Neurol 2010; 10: 46
[3] Beloor Suresh A, Asuncion RMD. Myasthenia Gravis. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2021 Jan, PMID: 32644757
[4] Wiendl H et al., AWMF-Registernummer: 030/087, gültig bis 31.08.2019, derzeit in Überarbeitung
Bildnachweis: Lissy Höller, medbo