Bisher gab es eine S1-Leitlinie zum Lipödem. Um die Diagnostik und Therapie zu optimieren, wurde sie verlängert und in eine S2k-Leitlinie aufgewertet. Leitlinienmitautor Dr. med. Stefan Rapprich erläutert im Interview, an welchen Punkten die Leitlinie erweitert wurde und warum die Vertiefungen sinnvoll sind.
Dr. med. Stefan Rapprich
Dermatologe und Phlebologe
Vorsitzender der AG Lipödem der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie und Vorstandsmitglied der LipödemGesellschaft e. V.
s.rapprich@hautmedizin-badsoden.de
Dr. Rapprich, warum ist der Bekanntheitsgrad des Lipödems in der Wissenschaft und in den Medien in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen?
Lange Zeit fand das Lipödem wenig Beachtung. Erst 2017 erhielt die Erkrankung einen eigenen Diagnoseschlüssel im ICD-10-Code. Dennoch sind die Ätiologie und damit der Zugang zu kausalen Therapieansätzen von Lipödem-Schmerzen auch rund 80 Jahre nach Erstbeschreibung der Krankheit noch weitgehend unklar.
Allerdings hat sich die Zeit bis zur Diagnosestellung deutlich verkürzt und die Dunkelziffer ist gesunken. Das beruht auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch auf dem gestiegenen Bekanntheitsgrad der Erkrankung. Die betroffenen Frauen sind zwischen 16 und 80 Jahre alt, und gerade Frauen zwischen 20 und 40 sind auf Social Media sehr aktiv. Immer mehr Betroffene teilen ihre Geschichte in den sozialen Netzwerken wie Instagram, und auch Patientengruppen sind dort präsent. Dadurch sind vermehrt Medien wie Zeitungen und Rundfunk auf das Thema Lipödem aufmerksam geworden.
In der alten Leitlinie wird das Lipödem anhand des Erscheinungsbildes in 3 Schweregrade eingeteilt. Gibt es hier Änderungen?
Momentan wird die Einteilung in 3 Stadien noch verwendet, weil die ICD-Codierung daran hängt. Allerdings hat sich in der Praxis die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die tatsächlichen Beschwerden der Betroffenen damit nicht abbilden lassen. Diese Klassifikation orientiert sich rein an morphologischen Kriterien, die nicht unbedingt mit der Schmerzhaftigkeit korrelieren. Außerdem erfolgt die Progression von einem Stadium in das nächste nicht zwangsläufig – so wie früher angenommen. Vielmehr hängt das Fortschreiten der Erkrankung von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere vom Gewichtsverlauf. Denn eine Adipositas verstärkt das Lipödem.
Das Problem ist aber, dass es derzeit keine andere Einteilung gibt. Hier besteht eindeutig der Auftrag an die Forschung, eine objektive Beurteilung des Schweregrades der Erkrankung zu entwickeln.
Welche Änderungen sind Ihrer Meinung nach noch grundlegend?
Eine weitere Neuerung ist die differenzierte Anwendung der konservativen Therapie. Dass es nicht einfach heißt: „Diagnose Lipödem, nun muss die Patientin medizinische Kompressionsstrümpfe erhalten und zur Lymphdrainage gehen.“ Vielmehr sollte genauer hingeschaut werden, ob denn tatsächlich ein Ödem vorliegt und welche Maßnahmen der konservativen Therapie der Patientin auch wirklich helfen. Angeraten ist also eine individuell angepasste Therapie – was durchaus leitliniengerecht ist.
Dann wurde die IPK, also die intermittierende pneumatische Kompressionstherapie, als weitere Behandlungsoption neu aufgenommen. Die IPK kann vor allem an den Beinen ergänzend zur manuellen Lymphdrainage zur Schmerzlinderung eingesetzt werden. Eine Verordnung ist möglich, wenn ein Ödem nachgewiesen ist oder sich die Schmerzsymptomatik dadurch verbessert. Interessant ist auch der Einsatz der IPK als Heimtherapie.
Außerdem gibt es ein neues Kapitel zur psychosozialen Therapie. Es wird jetzt empfohlen, dass in der Diagnostik neben den medizinischen auch die psychosozialen Faktoren einbezogen werden. Nicht selten leiden jüngere Lipödempatientinnen unter Essstörungen, bei älteren stehen eher Depressionen im Vordergrund. Nicht selten sieht man bei Lipödempatientinnen Traumaerlebnisse nach Gewalt und Missbrauch. Eine Hypothese ist, dass hormonelle Veränderungen mögliche Triggerfaktoren für das Lipödem sein können. Meistens beginnt die Erkrankung in der Pubertät und kann unter Hormoneinnahme, in der Schwangerschaft und den Wechseljahren einen Schub erfahren. Also immer in den Lebensphasen einer Frau, in denen eine hormonelle Veränderung stattfindet.
Wie steht es um das Selbstmanagement der Betroffenen?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Effektives Selbstmanagement ist ein wichtiger Bestandteil der Gesundheitskompetenz. Aus diesem Grund wurde das Kapitel Selbstmanagement neu aufgenommen. Die Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit kann beispielsweise so aussehen, dass Patientinnen Anschluss an Selbsthilfegruppen finden oder sich über ein Coaching oder eine psychotherapeutische Begleitung Hilfe suchen.
Eine Komorbidität ist Adipositas. Welchen Umfang hat das Themengebiet Gewichtsmanagement und Ernährung?
Es ist deutlich größer geworden. Die Leitlinie spricht auf Basis von Studiendaten eine Empfehlung für die ketogene Ernährung und die mediterrane Ernährung aus. Zu den in Studien beobachteten Effekten gehören Gewichtsreduktion und Verringerung von Fettgewebe in den lipödemtypischen Bereichen. Auch zeigte sich eine antiinflammatorische Wirkung. Zudem verringern sich unabhängig vom Gewichtsverlust die Schmerzen und die Lebensqualität verbessert sich. Zum Gewichtsmanagement gehört auch Sport. Hier empfiehlt die Leitlinie Sport im Wasser und zwar solche Bewegungsformen wie Aquacycling, bei denen man sich senkrecht im Wasser bewegt. Dadurch ergibt sich ein Massageeffekt auf der Haut wie bei der Lymphdrainage, das Wasser trägt das Körpergewicht, wodurch die Gelenke entlastet werden, und die Fettverbrennung ist deutlich gesteigert.
Wo sehen Sie beim Thema Lipödem zukünftig noch Bedarf?
Ein differenzierteres Herangehen wäre ideal, zum Beispiel benötigt eine 20-jährige Patientin ein anderes Therapiekonzept als eine 60-jährige. Auf gesundheitspolitischer Ebene wünsche ich mir bessere Rahmenbedingungen, um die Empfehlungen der Leitlinie auch in der Praxis umsetzen zu können. Außerdem wäre der Aufbau von interdisziplinären Versorgungsnetzwerken für eine ganzheitliche Therapie sinnvoll.
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