Bis heute gibt es keine deutsche Leitlinie zu Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS), trotz einer Prävalenz von 0,1 bis 0,7%. In der umfassend überarbeiteten S3-Leitlinie „Müdigkeit“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) sind deshalb die Empfehlungen zu ME/CFS deutlich umfangreicher ausgefallen und mit zusätzlichen Schwerpunkten für den Praxisalltag von Hausärzten versehen als bislang.
Müdigkeit ist ein häufiger Beratungsanlass in der Hausarztpraxis. Das gilt umso mehr in Zeiten von Long- und Post-COVID. Die DEGAM warnt davor, den hohen Leidensdruck der Patienten zu unterschätzen. Die Behandlung des Beschwerdebildes Müdigkeit ist äußerst komplex. Umso wichtiger ist es, dass sich niedergelassene Hausärzte mit Leitlinien im Praxisalltag gut orientieren können, welche Diagnose- und Therapieoptionen am sinnvollsten sind.
Die überarbeitete S3-Leitlinie der DEGAM „hilft den Hausärztinnen und Hausärzten, das richtige Maß an Medizin zu finden: Das Gute und Richtige zu tun und das Unnötige und gegebenenfalls sogar Schädliche zu unterlassen“, kommentiert Prof. Dr. med. Martin Scherer, Präsident der DEGAM. Ziel sei es, die betroffenen Patienten bestmöglich zu versorgen.
Ursache von ME/CFS nach wie vor ungeklärt
Wie in der bisherigen Version spricht sich die Leitlinie für eine biopsychosoziale Vorgehensweise aus. Gleichzeitig werden der hohe Stellenwert der ausführlichen Anamnese und die umfassende primärärztliche Versorgung bei Müdigkeit erneut betont.
Die umfassendsten Änderungen gibt es im ME/CFS-Kapitel. „Durch die Gesamtleitlinie gibt es nun aktuelle wissenschaftliche Informationen mit entsprechend fundierten Handlungsempfehlungen für Hausärzte in Deutschland“, sagt Prof. Dr. med. Erika Baum die die Überarbeitung der Leitlinie betreut hat. Das neue Kapitel zu ME/CFS orientiert sich am Stand der internationalen Forschung sowie an internationaler Evidenzrecherche und -bewertung. Allerdings gibt es noch viele offene Forschungsfragen. Auch deswegen spricht sich die DEGAM in der Leitlinie für mehr Forschungsanstrengungen zu diesem komplexen Krankheitsbild aus. Da die Ursache von ME/CFS nach wie vor ungeklärt ist und sowohl physiologische als auch psychosomatische Mechanismen in Betracht kommen, wird eine langfristig angelegte und biopsychosoziale Betreuung durch die Hausarztpraxis empfohlen.
„Gerade Hausärzte können gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten am besten erkennen, welche Interventionen und Belastungen individuell tolerabel sind, um Fehlbelastungen zu vermeiden und die Therapie anzupassen. Bei guter Kenntnis der Informationen aus der Leitlinie und kontinuierlich-vertrauensvoller Betreuung können Betroffene adäquat versorgt werden“, so Baum.
Kontroverse Diskussion um ME/CFS
Die DEGAM weist darauf hin, dass die wissenschaftliche Debatte um Diagnostik und Therapie von ME/CFS auch international seit längerem von Kontroversen geprägt ist – gerade weil die Ursachen unklar und die wissenschaftlichen Ergebnisse wenig einheitlich sind. Diese Kontroverse bildet sich in Teilen in der DEGAM-Leitlinie ab, weil sich verschiedene Fachgesellschaften mit einem Sondervotum zum ME/CFS-Kapitel eingebracht haben. „Bei schwacher Evidenzlage wie in diesem Fall ist es nicht unüblich, auch in der Leitlinienarbeit zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen zu kommen“, kommentiert Scherer. Die oft hitzige öffentliche Diskussion um ME/CFS zeige, dass es in diesem Bereich viele Missverständnisse gebe, sagt Baum. „Es ist unsere Aufgabe als wissenschaftliche Fachgesellschaft, diese Missverständnisse zunehmend aufzulösen. Dafür setzen wir uns auch mit der neuen Leitlinie ein.“
Die S3-Leitlinie der DEGAM (AWMF-Registernr. 053-002) steht online als PDF (116 Seiten) zum Download zur Verfügung (https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/053-002).
Pressemitteilung „Behandlung von Müdigkeit in der Hausarztpraxis“. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Berlin, 16.2.2023 (https://www.degam.de/pressemitteilungen-2023).