- Anzeige -
Allgemeinmedizin

Rückrat

Zweitmeinung vor schmerzbedingter Wirbelsäulenoperation obligat

PD Dr. med. Michael A. Überall

2.8.2022

Aus Sicht der Deutschen Schmerzliga (DSL) e. V. besteht vor Durchführung schmerzbedingter Wirbelsäulen­operationen die Notwendigkeit für eine gesetzlich verpflichtende Überprüfung der Operationsindikation durch eine unabhängige interdisziplinäre Schmerzkonferenz unter Einbeziehung qualifizierter Schmerzexperten.

 Die Zahl operativer Eingriffe an der Wirbelsäule wegen anhaltender/chronischer bzw. anderweitig therapieschwieriger Rückenschmerzen steigt in Deutschland seit geraumer Zeit überproportional an. Systematische Untersuchungen belegen eine auffällige Diskrepanz zwischen dem (schmerz-)medizinisch sinnvollen Bedarf und den faktisch realisierten Operationen. Die zunehmende Spezialisierung von Kliniken für chirurgische Eingriffe an der Wirbelsäule wird zum entscheidenden Faktor für eine kontinuierlich steigende Fehl- und Überversorgung, bei der nicht mehr der Bedarf bzw. das Bedürfnis des Patien­ten, sondern das regionale Angebot operativer Verfahren darüber entscheidet, ob und wer wann bzw. wie operiert wird.

Die etwas andere zweite Meinung

Zur Evaluation und Kontrolle dieser angebotsinduzierten Über-/Fehlversorgung operativer Verfahren begleitet die Deutsche Schmerzliga (DSL) e. V. in Kooperation mit verschiedenen gesetzlichen Krankenversicherungen seit 2016 das IMC-Netzwerk schmerzmedizinischer Schwerpunkteinrichtungen. Es bietet Betroffenen, denen zur Linderung ihrer Rückenschmerzen eine Wirbelsäulenoperation angeraten wird, ein Zweitmeinungsverfahren in Form einer interdisziplinären Schmerzkonferenz entsprechend der Konzeption der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e. V. und den Empfehlungen der Deutschen Schmerzliga an.

Unabhängige Kontrolle ist richtig und wichtig!

Im Gegensatz zu dem seit 2021 auch vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) etablierten Rechtsanspruch für Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen (bei dem es in erster Linie um die Prüfung der Operationsfähigkeit geht), dient das IMC-Zweitmeinungsverfahren dazu, die Möglichkeit konservativer Therapieverfahren unter ganzheitlicher Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse Betroffener zu evaluieren. Dabei kommt dem interdisziplinären Ansatz (d. h. der unabhängigen Bewertung des jeweiligen Einzelfalles durch ein Team verschiedener qualifizierter Schmerzexperten und der nachfolgenden gemeinsamen Fallbesprechung mit dem Betroffenen in Form einer interdisziplinären Schmerzkonferenz) eine zentrale Bedeutung zu.

Wirbelsäulenoperationen nur selten hilfreich

Ausgangspunkt des genannten Konzeptes sind zahlreiche Untersuchungen zu Patienten mit Kreuz-/Rückenschmerzen, bei denen durch den Einsatz operativer Verfahren nur einem kleineren Teil der Betroffenen geholfen werden konnte. Und das auch oft nur kurzfristig und vorübergehend. Bei der Mehrzahl der operativen Eingriffe konnte keine dauerhafte Beschwerdelinderung erzielt bzw. mitunter sogar eine Befundverschlechterung beobachtet werden.

Angesichts des bekannt hohen Anteils psychosozialer, mehrdimensionaler Krankheitsfaktoren und der in den meisten Fällen eher geringen Bedeutung struktureller Störungen ist es kein wirklich überraschendes Ergebnis, dass das für Kliniken finanziell lukrative „Broken-car“-Konzept nur selten auch für Betroffene mit einer nachhaltigen Beschwerdelinderung einhergeht. Hochwertige placebokontrollierte Studien konnten bislang bei überschaubaren Akut­effekten keinen belastbaren Nachweis einer nachhaltigen Wirkung elektiver Wirbelsäulenoperationen bei Kreuz-/Rückenschmerzen erbringen.

Deutsche Schmerzliga fordert ISK als Basiskonzept

Elektive Operationen, die ohne ein positives Zweitmeinungsvotum durchgeführt werden, sollten aus Sicht der Deutschen Schmerzliga von den gesetzlichen Krankenversicherungen nicht mehr länger vergütet werden. Die Gelder könnten stattdessen zum flächendeckenden Aufbau qualifizierter Alternativangebote genutzt werden. Aus schmerzmedizinischer Perspektive ist zu fordern, dass jedes Zweitmeinungsverfahren vor einer schmerzbedingten Wirbelsäulenoperation verpflichtend in Form einer unabhängigen interdisziplinären Schmerzkonferenz (ISK) zu realisieren ist, wohingegen die gegenwärtig durch den G-BA vorgegebenen Zweitmeinungsverfahren im Zuge der Regelversorgung sowohl aufgrund ihrer strukturellen Beschränkung als auch bezüglich ihrer monodisziplinären Umsetzung ­methodisch suboptimal und für Betroffene wenig zielführend sind.

Möglichkeit vs. Sinnhaftigkeit einer Wirbelsäulenoperation

Ziel einer bedürfnisorientierten interdisziplinären Schmerzkonferenz zur Evaluation von Sinnhaftigkeit, Nutzen und Risiken eines elektiven operativen Eingriffs an der Wirbelsäule ist nicht die Bewertung der technischen Operabilität, sondern die Bewertung alternativer konservativer Verfahren im Kontext einer interdisziplinär angelegten und ambulant durchführbaren multimodalen Schmerztherapie mit dem Ziel einer zeitnahen und nachhaltigen Beschwerdelinderung.

Die Betroffenen und nicht das Verfahren sollten im Fokus des Zweitmeinungsverfahrens stehen. Die Entscheidung für bzw. gegen eine operative Intervention sollte obligat unter Einbeziehung mehrerer unabhängiger konservativer Fach­experten im Kontext einer interdisziplinären Schmerzkonferenz getroffen werden. So soll ­

dem Trend der steigenden Über- und Fehlversorgung durch elektive Wirbelsäuleneingriffe sinnvoll begegnet werden.

Der Autor

PD Dr. med. Michael A. Überall
Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie & Pädiatrie – IFNAP
DGS Exzellenzzentrum für Versorgungsforschung
90411 Nürnberg

michael.ueberall@ifnap.de

Lesen Sie mehr und loggen Sie sich jetzt mit Ihrem DocCheck-Daten ein.
Der weitere Inhalt ist Fachkreisen vorbehalten. Bitte authentifizieren Sie sich mittels DocCheck.
- Anzeige -

Das könnte Sie auch interessieren

123-nicht-eingeloggt