Beleidigungen und handfeste Attacken passieren nicht nur in den dunklen Ecken einer Stadt, sondern können auch zum Problem in Arztpraxen werden. Dann sollte man wissen: Wie gefährlich kann es hier noch werden? Wie kann ich die Situation deeskalieren? Und was tue ich, wenn das nicht klappt?
Die meisten Patientinnen kommen vielleicht nicht freudig in die Praxis, aber immerhin friedlich. Sie haben i. d. R. ein Anliegen, von dem sie sich eine Lösung erwarten. Und meistens auch bekommen. Mitunter sind die Erwartungen aber unrealistisch und dann kann es schon mal vorkommen, dass Patientinnen die Fassung verlieren und „explodieren“ – verbal und physisch.
Auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen leiden zunehmend unter Beschimpfungen, Beleidigungen und sogar körperlicher Gewalt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der NAV-Virchow-Bund hatten Zahlen zum Thema alltäglicher Gewalt in Praxen zusammengetragen. Nach diesen Berechnungen gibt es bundesweit in Arztpraxen täglich 75 gewalttätige Vorfälle. Dazu kommen fast 3 000 Fälle verbaler Gewalt jeden Tag.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat dazu im August und September 2024 eine Online-Befragung durchgeführt. Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Praxismitarbeitende waren aufgerufen, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Mit der Befragung will die KBV herausfinden, wie häufig Praxen von Anfeindungen und Gewalt betroffen sind. Dabei geht es sowohl um verbale als auch um körperliche Gewalt wie Schläge, Tritte, Spucken oder Kratzen sowie die Bedrohung mit Waffen oder anderen Gegenständen.
Der gelebte Wertekodex des gesamten Praxisteams sollte für Praxisbesuchende spürbar werden.
Die wenigsten Patientinnen und Patienten haben vermutlich gezielt im Sinn, Ärztinnen, Ärzten und dem Praxisteam zu schaden. Aber, ein Termin in der Arztpraxis (oder im Krankenhaus) ist für viele Personen ein „außergewöhnliches Ereignis“, das Erkrankte und Verletzte als eine Ausnahmesituation erleben, die möglicherweise (zu) belastend für sie ist. In einer emotional angespannten Situation kann es schnell passieren, dass das Fass unbeabsichtigt zum Überlaufen gebracht wird. Auslöser können selbst alltägliche Situationen wie lange Wartezeiten, Personalmangel oder auch nicht verstandene ärztliche Empfehlungen sein. Ein mögliches Ergebnis: Angeschlagene Patientinnen und Patienten können nicht mehr vernünftig handeln und werden aggressiv.
Vorbereitet sein für den Ernstfall
Um sich für den Fall der Fälle im Umgang mit aggressiven Patientinnen und Patienten zu wappnen, helfen spezielle Trainings und gezielte Strategien, die manche KVen anbieten. Aber auch das Erarbeiten von verbalen Strategien und hilfreichen Formulierungen, die eingeübt, getestet und angepasst werden, kann sich im Ernstfall als sehr hilfreich erweisen. Denn die wichtigste „Waffe“ ist die Kommunikation.
Im Alltag immer freundlich und höflich mit schwierigen Patientinnen und Patienten umzugehen, erfordert ein stabiles Selbstwertgefühl und eine gehörige Portion menschenfreundliches Denken und Verhalten bei allen Praxismitarbeitern. Hilfreich dabei ist es, täglich gemeinsam mit Respekt und Wertschätzung für eine gute Stimmung in der Praxis zu sorgen. Das tägliche morgendliche Briefing – mit kleinen positiven Ritualen – stärkt das gemeinschaftliche Werte- und Wir-Gefühl, das dann auch in kritischen Momenten trägt und Stabilität gibt. Weiterhin gehört zum Fundament starker Teams eine klare Kommunikation untereinander, die unbedingte Bereitschaft, selbst kleinste Unstimmigkeiten und Konflikte rasch aufzulösen und vertrauens- und respektvoll für die interne Harmonie zu sorgen. Deshalb ist der Einsatz bewährter QM-Instrumente für gelingende Teamarbeit notwendig und unentbehrlich:
Aggressionen bei Erkrankten deeskalieren
Freundlichkeit ist in der Patientenkommunikation generell unverzichtbar und in kritischen Situationen sollte man
Beim Sprechen können Ich-Botschaften gesendet werden (Formulierungsvorschläge siehe Kasten). Vielleicht gelingt es auf diese Weise, ein Versöhnungsangebot zu machen; dabei braucht es eine zugewandte Körpersprache und eine Stimme mit ruhigem und versöhnlichem Klang. Vorsicht ist trotzdem geboten, denn klar ist auch: Die Deeskalation gelingt nur, wenn sich das Gegenüber darauf einlässt. Um Übergriffen vorzubeugen und abzuwenden ist es notwendig, schon prophylaktisch Kontakt zu den relevanten Sicherheitsbehörden aufzunehmen und sich grundsätzlich im Umgang mit etwaigen Gefährdungssituationen beraten zu lassen.
Wenn die Deeskalation misslingt
Drohende oder tobende Patientinnen und Patienten erreicht man meistens verbal nicht mehr. Diese Personen oder Angehörige haben Schwierigkeiten mit der Affektkontrolle bzw. der Impulskontrolle und zeigen oft starke Wutanfälle, bei denen sie selbst die Kontrolle über sich verlieren. In diesen Fällen ist es besser, nicht von sich aus das Wort zu ergreifen, sondern erst einmal abzuwarten. Vielleicht geht „der Sturm“ vorüber. Ansonsten sollten z. B. die erprobten positiven Ansätze zur Beherrschung unschöner Situationen zum Einsatz kommen:
Kommt es trotzdem zu zunehmendem Widerstand oder gar physischen Tätlichkeiten, sollte ein Teammitglied unverzüglich die Polizei alarmieren.
Letzter Ausweg: Die Ärzteschaft darf, von Notfällen abgesehen, eine Behandlung ablehnen.
Im Ernstfall – wenn keine anderen Strategien mehr helfen – können Praxisinhaberinnen und -inhaber die Angreifer auch in Zukunft von der Praxis fernhalten und erteilen ihnen Praxisverweis bis hin zum Hausverbot. Die Ärzteschaft darf, von Notfällen abgesehen, eine Behandlung ablehnen: „Bitte verlassen Sie unsere Praxis. Sonst begehen Sie Hausfriedensbruch. Das ist eine Straftat. Deshalb sollten Sie in Ihrem eigenen Interesse jetzt gehen.“
In jedem Fall sollte der Vorgang dokumentiert werden. Unter Umständen kann – auch als Abschreckung und öffentliche Signalwirkung – ein Strafantrag gestellt werden. Ein praxisindividuelles Schutzkonzept – als unverzichtbares Dokument und Schulungsunterlage des QM-Praxishandbuchs – gibt Orientierung und Sicherheit für alle Beteiligten in der Praxis. Eine Thematisierung und Vorbereitung im Team schafft immer Gelassenheit und das gute Gefühl, auf alle Fälle vorbereitet zu sein. Das lässt alle im Team gelassener in den Arbeitstag gehen – und von einem gelassenen Miteinander profitieren am Ende alle.
Die Autorin
Theresia Wölker
Beraterin und Fachreferentin im Gesundheitswesen
(Schwerpunkte QM, Kommunikation, Stressbewältigung und Resilienz)
Bildnachweis: privat