Chirurgische Eingriffe wurden womöglich wesentlich früher vorgenommen, als bisher bekannt. Die bisher früheste nachweisbare Operation fand vor etwa 7.000 Jahren statt. Neuere Funde weisen darauf hin, dass Menschen sich bereits vor 31.000 Jahren an operativen Eingriffen versuchten.
„Die Geschichte der Chirurgie begann in der Steinzeit“, tönt es in einschlägiger Fachliteratur zur Geschichte der Chirurgie. Und wiederholt damit die fast einhellige Ansicht über die Entwicklung der Medizin, dass erst die Entstehung sesshafter Agrargesellschaften vor etwa 10.000 Jahren („neolithische Revolution“) zu einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen führte, die zuvor bei nicht sesshaften, ständig auf Nahrungssuche umherziehenden Stämmen unbekannt waren. Und die dann die ersten größeren Innovationen in der prähistorischen medizinischen Praxis ausgelöst haben sollen. Zu diesen Veränderungen gehörte dann - sehr spät in der Menschheitsgeschichte - auch die Entwicklung fortschrittlicherer chirurgischer Verfahren. Eine jetzt in „Nature“ publizierte Arbeit verdeutlicht nun, dass zumindest dieser Teil der Medizingeschichte neu geschrieben werden muss.
Einer der ältesten bekannten Hinweise auf eine „chirurgische Operation“ ist ein Skelettrest eines europäischen Bauern aus der Jungsteinzeit (gefunden in Buthiers-Boulancourt, Frankreich), dessen linker Unterarm chirurgisch entfernt worden war und anschließend teilweise verheilte. Schon dieser akzeptierte Fall einer Amputation, der auf die Zeit vor etwa 7.000 Jahren datiert wird, hätte umfassende Kenntnisse der menschlichen Anatomie und beträchtliches technisches Geschick erfordert und wird daher als frühester Beleg für eine komplexe medizinische Aktivität angesehen.
Hinweise auf hoch entwickelte medizinische Fähigkeiten
Eine multinationale Arbeitsgruppe von Archäologen und Paläoanthropologen aus Australien, Indonesien und Südafrikas berichtet nun über die Entdeckung von Skelettresten eines jungen Menschen aus Borneo. Dem Skelett wurde mutmaßlich im Kindesalter das distale Drittel des linken Unterschenkels chirurgisch amputiert – vor mindestens 31.000 Jahren. Das Individuum überlebte den Eingriff und lebte weitere sechs bis neun Jahre, bevor seine Überreste absichtlich in der Liang Tebo-Höhle begraben wurden, die in Ost-Kalimantan im indonesischen Teil von Borneo in einem Kalkstein-Karstgebiet liegt (wo sich einige der frühesten datierten Felszeichnungen der Welt befinden). Dieser unerwartet frühe Nachweis einer erfolgreichen Amputation von Gliedmaßen deutet darauf hin, so schreiben die Forscher, dass zumindest einige moderne menschliche Sammler- und Jägergruppen im tropischen Asien schon lange vor dem Übergang zur neolithischen Landwirtschaft hoch entwickelte medizinische Kenntnisse und Fähigkeiten hatten.
Aus Sicht der Autoren hat die Entdeckung einer chirurgischen Amputation vor etwa 31.000 Jahren wichtige Auswirkungen auf das Verständnis der Entwicklung menschlicher medizinisch-sozio-kultureller Praktiken. Westliche Wissenschaftler vertreten seit langem die weit verbreitete Ansicht, dass die Gesundheitssysteme und medizinischen Verfahren historisch bekannter Sammlergesellschaften rudimentär waren (selbst wenn sie anerkanntermaßen ein oft umfangreiches Wissen über pflanzliche Heilmittel hatten). Zur Amputationschirurgie selbst liegen historische Berichte erst aus antiken römischen Quellen vor.
Maloney TR et al.; Nature. 2022 Sep 7 (DOI 10.1038/s41586-022-05160-8).
Grönemeyer HW: Med. in Deutschland: Standort mit Zukunft. Springer, Berlin/Heidelberg, 2000 (ISBN 9783662086056).